Region 13
Bayerischer Wald, Unterbayern, Oberbayern, Chiemgau
Der Text und die Abbildungen stammen aus dem Mitteilungsblatt
der Interessengemeinschaft Erstallforschung (IGEF)
„Die künstliche Höhle“, Jahrgang 2017, Ausgabe 1, Seite 40-42
Aying 2017
Im Landkreis Miesbach, nicht weit von Irschenberg entfernt,
gibt es den Ort Reichersdorf. Als dort im Jahre 1640 der Schäfflerbauer auf
seinem Hof nach Wasser grub, tat sich plötzlich ein enges Loch zu einem
unterirdischen Gangsystem auf. Bald nach der Entdeckung stellte sich eine
Wallfahrt ein. Der damalige Probst Valentinus Steyrer (1629 – 1659) aus Weyarn
verfasste eine “Delineatio oder Kurtze Beschreibung von der Erfündung der
Creutzgrufft und wunderwürklichen Pronnens zue Reicherstorff“ und veranlasste
den Bau einer Allerheiligenkapelle, die heute noch wie ein Turm über dem
Erdstall trohnt.
Der Einstieg in die unterirdischen Gänge befand sich direkt hinter dem Altar. Im Erdstall selbst wurde eine kleine, unterirdische Kapelle als weitere Andachtsstätte errichtet und die Figur der hl. Barbara aufgestellt. Das Wasser aus dem Brunnen und die „Erde“ aus dem Erdstall galten als heilkräftig. Die Kranken fanden Linderung oder Heilung bei Kreuzschmerzen, Augenleiden, Koliken, Monats- und Wochenbettbeschwerden, Gliederschmerzen und Geschwüren. Auch Tiere wurden behandelt und Äcker wieder fruchtbar gemacht.[1]
Die Entdeckungsgeschichte des Erdstalles in Reichersdorf ist mit der Einführung einer Wallfahrt eng verwoben und macht die Anlage kulturhistorisch interessant. Sie zeigt auf eindrucksvolle Weise wie tradierte (überlieferte) Fragmente eines alten Glaubens adaptiert und verändert wurden, denn die heilsversprechenden Tätigkeiten um den Erdstall erinnern mehr an einen Erdmutterkult als an christliches Geschehen. So hat der Volksmund am Ende sogar eine Sage von drei Jungfrauen auf die unterirdischen Gänge gelegt, die dort unten ihre wunderschönen Gesänge hören lassen.[2]
In Oberbayern sind Erdställe häufig verbunden mit diesen Sagengestalten. Oft sind zwei von Ihnen weiß und eine ist halb schwarz und halb weiß.[3] Der Ursprung der drei Jungfrauen ist in den keltisch-römischen Matronen oder den germanischen Nornen zu suchen. Im Alpenraum sind sie auch als die „Saligen Fräulein“ oder die drei „Bethen“ bekannt. Es sind die drei Schicksalsfrauen, deren Aspekte Geburt, Leben und Tod sich in einer mythischen Gottheit, der Großen Mutter vereinen. Diese Gottheit, die das große Weibliche umfasst und als Herrin der Zeit und des Wachstums beschrieben wird, ist niemand anderes als (im Alpenraum) die Percht oder die Frau Holle im Märchen.[4] Im 13./14. Jh. wurden die drei Jungfrauen im katholischen Bayern zur heiligen Katharina, Margaretha und Barbara, die noch heute als die „drei heiligen Madln“ bezeichnet werden.[5]
Dass ausgerechnet die Hl. Barbara und nicht eine ihrer Schicksalsschwestern im Erdstall Reichersorf angesprochen wurde ist kein Zufall. Sie gilt wie die Katharina und Margaretha als Märtyrerin und gehört zu den 14 Nothelfern. Heute ist die Hl. Barbara weithin die Schutzpatronin der Bergleute, aber sie war auch Sterbepatronin und Ansprechpartnerin bei Schwangerschaftsbeschwerden. Gemäß ihrer Legende war sie so schön, dass sie ihr Vater in einen Turm einschloss, um ihre Unberührtheit zu sichern. Die künstlerische Darstellung ist stets in vornehmer Kleidung, oft neben einem Turm und in der Hand einen Becher haltend. Der Turm hat drei Fenster als weithin sichtbares Symbol der Dreifaltigkeit[6] und wurde zum Sinnbild der Jungfräulichkeit. Seine Symbolkraft reicht aber noch weiter. In der mittelalterlichen Kunst ist er häufig auch Symbol der Wachsamkeit. Mit seiner erdferne ist er aber Gegensatz zum Unterirdischen, er verbindet wie der Weltenbaum Himmel und Erde.
In der Beschreibung der Großen Mutter wird dem Weiblichen die Zeit-Qualität ebenso wie das Element des Wassers zugeordnet (das Wasser aus dem Brunnen in Reichersdorf spielt bei der Wallfahrt eine wichtige Rolle). Die vornehme Kleidung der Barbara weist auf edle Herkunft. Das Wort Jungfrau (mhd. juncvrouwe) gehörte zum Standardwortschatz des 11. Jh. und war als „junge Herrin“ die Bezeichnung der Edelfräulein. Jungfräulichkeit im Sinne von Unberührtheit war ursprünglich nicht gemeint.[7] Die sitzende, archaische Darstellung der Heiligen Barbara, die in den unterirdischen Gängen aufgestellt wurde erinnert eher an eine römische Matrone als an eine christliche Heilige. Schließlich spiegeln sich auch im ehemaligen Wallfahrtsgeschehen am Erdstall in Reichersdorf die Aspekte der Schicksalsfrauen. In der um die Wallfahrt entstandenen Architektur ist es der turmartige Kapellenbau, der, obwohl „allen heiligen geweiht“, als Symbol der Barbara über dem Erdstall thront und die unterirdische Barbarakapelle selbst, welche den Erdstall in Reichersdorf zum Kultort der Heiligen Barbara machen.
Für die Forschung um die Zweckbestimmung der Erdställe ist der Reichersdorfer Erdstall ein faszinierendes Beispiel. Das Schrifttum über die einstige Wallfahrt lässt erkennen, dass in der bäuerlichen Bevölkerung die Erdställe gegen Mitte des 17. Jahrhunderts völlig vergessen waren. Der Reichersdorfer Erdstall wurde im 30jährigen Krieg nicht als Versteck genutzt. In den unterirdischen Gängen wurde die Hl. Barbara als Fruchtbringende und Heilbringende Wohltäterin verehrt. Es ist die Interpretation einer Zweckbestimmung in einer Zeit in der Krieg, Hunger und Not ein ausgezehrtes Volk hinterließen. Eine Zeit in der Zweifel am bestehenden Glauben leicht möglich waren (und bayernweit unzählige Wallfahrten mit ähnlich denkwürdigem Hintergrund entstanden sind). Eine Lösung des Erdstallrätsels kann der Kult der Hl Barbara am Erdstall in Reichersdorf allerdings nicht liefern.
Im Laufe der Zeit wurde am Erdstall in Reichersdorf manches umgebaut. Der zur Zeit der Wahlfahrt genutzte Einstieg hinter dem Altar der Allerheiligenkapelle wurde eines Tages baufällig. Zusammen mit den Haushamer Bergwerksleuten schuf der Historische Verein für Oberbayern in der Mitte des 19. Jh. einen neuen Einstieg und der Bereich hinter dem Altar wurde verschlossen. In dieser Zeit entstand auch eine erste Planzeichnung des Erdstalles, den der Sagen- und Altertumsforscher Friedrich Panzer entworfen hat. Auf diesem Plan ist die Hl. Barbara noch in der unterirdischen Kapelle sitzend dargestellt.[8]
Das Erdstallfragment ist heute in recht abgenutztem Zustand
erhalten. Es besteht aus vier Gangabschnitten. Zwei Ebenen sind über einen
engen Vertikalschlupf miteinander verbunden. Der untere Gang schraubt sich an
seinem Ende spiralförmig in die Höhe, von hier ist der ursprüngliche Einstieg
zu sehen, bevor der Erdstall entdeckt wurde. Im Bereich des Brunnens zeigt der
Grundriss eine Kreuzform, weshalb der Erdstall bei seiner Entdeckung den Namen
Kreuzgruft erhielt. Die Figur der Hl. Barbara aus dem Erdstall ist heute im Archiv
des Heimatmuseums Miesbach untergebracht.
Dieter Ahlborn
Quellen und Anmerkungen
[1] Schwarzfischer Karl, Die Kreuzgruft zu Reichersdorf, in: Der Erdstall Nr. 2, Roding 1976, S. 70-90 – Ahlborn Dieter, Geheimnisvolle Unterwelt, Das Rätsel der Erdställe in Bayern, Aying 2010, S. 62-65
[2] Panzer Friedrich, Bayerische Sagen und Bräuche, Beiträge zur deutschen Mythologie, Bd. 2, Göttingen 1954, S. 17-18
[3] Vgl.: Niedermair Henriette, Der Erdstall in Roggenstein, in: Der Erdstall Nr. 2, Roding, 1976, S. 20-27.
[4] Neumann Erich, Die große Mutter, der Archetyp des Großen Weiblichen, Zürich 1956, S. 215-227. – Frau Holle, Mythos, Märchen und Brauch in Thüringen, Ausstellung in den Meininger Museen, Schloss Elisabethenburg 2009/2010: „Im Mythos der „Frau Holle“ liegt das Moment der schicksalsdeutenden und schicksalsbestimmenden Macht für den Menschen. In der griechischen Mythologie sind es die drei Moiren (moirai), die als Schicksalsgöttinnen den Lebensfaden spinnen (Klotho), seine Länge bemessen (Lachesis) und sein Ende bestimmen (Atropos). In der römischen Mythologie entsprechen ihnen die drei Parzen (parcae). Als weissagende Frauen treten die Sybillen (sybillae) auf, die meist in einsamen Grotten und Höhlen oder an berückenden Quellen wohnen und, ergriffen vom Geist Apollons, dem Volke die Zukunft voraus sagen. In der nordischen Mythologie erscheinen als Göttinnen der Zeit und des Schicksals die Nornen (nrornir), die als Urd (Vergangenheit), Verdandi (Gegenwart) und Skuld (Zukunft) am heiligen Brunnen oder unter dem Weltenbaum Yggdrasil weilen und sowohl die Schicksale der Götter wie auch der Menschen bestimmen. In der keltischen Mythologie entsprechend dem die drei Feen (tria fata).“ – Vgl.: Timm Erika, Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten 160 Jahre nach Grimm aus germanistischer Sicht, Stuttgart 2003.– Vgl.: Kollmann Karl, Frau Holle und das Meißnerland. Einem Mythos auf der Spur, 2005.
[5]Derungs Kurt, Früh Sigrid, Der Kult der drei heiligen Frauen, Krugzell 2008.
[6] Gorys Erhard, Lexikon der Heiligen, München 1997, S. 55-56. – Becker Udo, Lexikon der Symbole, Freiburg 1998, S. 314.
[7] Das Wort juncvrouwe (mhd.) oder jungfrouwa (ahd.) gehörte zum Standardwortschatz des 11. Jh. und war „zunächst als „junge Herrin“ die Bezeichnung der Edelfräulein, später verallgemeinert zu junge, unverheiratete Frau. In der Mystik wird das Wort im Rahmen des Marienkultes eingeengt auf die unberührte Jungfrau, so dass das Wort schon bald auf unberührte Frauen übertragen werden kann. Auf diese Bedeutung ist das Wort heute weitgehend beschränkt.“(Kluge, etymologisches Wörterbuch).
[8] Panzer Friedrich, Bayerische Sagen und Bräuche, Beiträge zur deutschen Mythologie, Bd. 2, Tafel 1, Göttingen 1954