Region 13
Bayerischer Wald, Unterbayern, Oberbayern, Chiemgau

Der Erdstall
Forschungsstand und kultische Bedeutung
Monika Löffelmann

Der Text stammt aus dem Heft:
"Der Erdstall - Kult, Religionsgeschichte, Überlieferung", Seite 18-19
mit freundlicher Genehmigung von Monika Löffelmann

Das komplette Heft kann hier bestellt werden:
moniloeffelmann@aol.com


2. Die Frage der Nutzung von Erdställen

2.1. Der Forschungsstand
2.1.1. Zu den Erdställen
2.1.1.1. Deutungen im Laufe der Forschungsgeschichte

Im Zuge der Erdstallforschung des letzten Jahrhunderts in Deutschland und Österreich wurden die Erdställe ausnahmslos dem kultischen Bereich zugeordnet. Die Deutungen reichten von Totengrüften, Grabstätten, Resten altheidnischer Tempel zu Orten eines religiösen Kultes oder speziell eines Kultes der Erdmutter. (26) Franz Kießling, ein Heimatforscher aus dieser Zeit, faßt die Auffassung folgendermaßen zusammen: „Einer solch unerhört mühseligen Arbeit, wenn si
e nicht lebensberuflich ist, unterzieht sich ein Mensch nur dann, wenn es sich um eine Sache handelt, die über das bloße Daseinsleben hinausgeht, wie sie zu allen Zeiten der Glaube an ein Leben nach dem Tode oder an ein höheres Wesen in sich schließt. (27)

Im der folgenden Zeit wurden die Erdställe verstärkt einer profanen Deutung unterworfen, begonnen bei Oswald Menghin, der die Anlagen als Zufluchtsstätten interpretierte. Daneben aber existierten auch Auffassungen, wonach es sich bei den Schrazenlöchem um Wohnhöhlen zwergwüchsiger Menschen, oder auch Winterquartiere und Vorratskam
mern der Germanen handeln solle.

Den aktuellen Forschungsstand vertritt im Wesentlichen der Arbeitskreis für Erdstallforschung, der vor über 20 Jahren vom Rodinger Heimatforscher Karl Schwarzfischer gegründet wurde. Demnach hat sich überwiegend die allgemeine Nutzungsdeutung der Erdställe als Kultstätten gegenüber der profanen Interpretation durchgesetzt. Lediglich Arbeitskreis-Vorstandsmitglied Josef Weichenberger aus Osterreich beharrt nach wie vor darauf, daß die Erdställe im Mittelalter al
s Zufluchtsstätten für die ländliche Bevölkerung gebaut worden seien.

2.1.1.2. Die Theorie der Leergräber von K. Schwarzfischer

Eine Deutung der Erdställe als Kultstätten kommt praktisch immer einer Deutung als Orte des Totenkultes gleich. Im Gegensatz zu Grabgrotten und Hypogäen fehlen in den Erdställen jedoch Überreste menschlicher Skelette wie auch Grabbeigaben. D
ies u.a. führte den Rodinger Heimatforscher Karl Schwarzfischer zu seiner Theorie der Erdställe als Leergräber bzw. Kenotaphe, wofür er insbesondere Analogie-Belege aus der Welt der klassischen Antike heranzog sowie die Zwergenzusammenhänge mit dem Seelen- und Geisterglauben in Verbindung brachte? Ahnen- und Totenverehrung wären demnach die hauptsächlichen geistigen Hintergründe für die Anlage von Leergräbern, die dann notwendig sei, wenn die toten Vorfahren nicht an Ort und Stelle bestattet, betrauert und verehrt werden können, beispielsweise infolge von Auswanderung eines Volksstammes.

2.1.2. Zu den Souterrains

Die Nutzungsdiskussion innerhalb der französischen Souterrains-Forschung, die auch in enger Zusammenarbeit mit der deutsch-ös
terreichischen wie auch mit der englischen Erdstallforschung steht, ist durchaus der hiesigen vergleichbar. "Souterrains aménagées: souterrains réfuges ou souterrains hypogées?"',lautet die Kernfrage. Entsprechend dem deutschen Forschungsstand werden die Hypogäen dem Totenkult zugerechnet: 'Totenkultstätte -nicht aber Gräber-, Kenotaphe, wenn man so will, Ruhestätten für die Geister, die eine Bleibe bei ihren überlebenden Angehörigen suchen, dies können unsere Höhlen sein,' sagt Pierre Nollent, langjähriger Präsident derfranzösischen Schwestergeselischaft. (29)

2.1.3. Persönliche Bewertung

Allein schon aufgrund der Architektur der Erdställe kann meines Erachtens bei einer Entscheidung zwischen profaner und sakraler Nutzung, zwischen Zufluchts- und Kultstätte die Wahl nur auf eine religiöse Bedeutung der unterirdischen Anlagen fallen. Die einfache, ländliche Bevölkerung -noch dazu im frühen Mittelalter- kann niemals Mittel und M
öglichkeit gehabt haben, Zufluchtsstätten für sich —ungeachtet des Viehs und größeren Gerätes— so kunstvoll und kompliziert auszugestalten. Handelte es sich um einen Zweckbau, wäre er wohl zweckmäßig, aber auch nur dieses, gebaut worden. Freilich mag auch hier so mancher, gerade in späterer Zeit, Zuflucht gesucht haben, wie es eine Art Kirchenasyl bis in die heutige Zeit hinein ja gibt, aber der Grund für den Bau der Anlage und das "Wie" ihrer Ausgestaltung kann nur in der Religion und dem religiösen Handeln gesucht werden. Bei dieser Einstufung darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß die Trennung in religiöse und weltliche Bereiche menschheitsgeschichtlich neueren Datums ist und —je früher die Zeit, desto verwobener waren beide Bereiche ineinander.

War ich von Anfang an schon überzeugt, daß ich es bei den Schrazenlöchern mit alten Kuithöhlen zu tun habe, wurden meine ersten Eindrücke im Zuge der intensiveren Beschäftigung mit dem Thema nur weiter bestätigt. Nicht nur, daß ich in schwangerem Zustand die Erfahrung machen mußte, daß sich die Erdställe nur für schlanke Leute öffnen —für die Theorie der Zufluchtstätten bedeutet dies, daß gerade schwangere Frauen, abgesehen auch von Alten und Gebrechlichen, den Feinden preisgegeben worden wären!—, es fanden sich überwältigend und überzeugend viele Analogien aus aller Welt und aller Zeit, die die Erdställe in die Tradition der Kulthöhlen stellen. Damit freilich ist noch keine Antwort gegeben, wie und von wem die Erdställe de facto genutzt wurden, schließlich ist kein Gästebuch, kein Ritenszenarium und keine Bauanleitung überliefert. Entsprechend kann die Frage der Nutzung nicht direkt bzw. nicht konkret präzise beantwortet werden. Ich kann mich hier nur folgender Meinung von Prof. Dr. Otto Huth anschließen:
„Das Problem der Erdställe kann die Religionswissenschaft nicht auf Anhieb lösen. Was sie vermag ist folgendes: Erstens sie kann den Rahmen abstecken, innerhalb dessen die Lösung liegt, und zweitens sie kann eine Annäherung versuchen, den Sinn dieser Anlagen in ihrer Zeit und in ihrem Raum zu eifassen. Denn auch wenn wir die Erdställe als Kultanla gen erkennen und beobachten, daß diese Erdbauten einer 'Begehung' dienten, bleibt der Spielraum der Deutungen noch recht'weit." (30)

2.2. Die kultische Bedeutung

Wie für Mysterienkulte bzw. für die vorgeschichtlichen Religionen allgemein üblich, gibt es keine direkten schriftlichen Berichte über die Verwendung der Erdställe. Die ausgesprochene Fundarmut sorgt desweiteren dafür, daß auch aus Gegenständen, besonderer Ausstattung oder Gebrauchsüberresten kaum auf die Bedeutung der Erdställe geschlossen werden kann. So bleibt lediglich die Möglichkeit, sich nach Vergleichbarem umzusehen und aus Parallelitäten Rückschlüsse auf die Erdställe und den mit ihnen verbundenen Kult zu ziehen. Und die Vergleichsmöglichkeiten bezüglich ähnlichen oder gleichen Bau- oder Überlieferungselementen aus Kulthöhlen bzw. Höhlenkulten in aller Welt von der Steinzeit bis hin zur 'Moderne' sind zahllos.

2.2.1. Erdstall als Kulthöhle
2.2.1.1. Hinweise aus der Paläolinguistik- Forschung

Anhand der Sprachentwicklung weist die Paläolinguistik-Forschung den engen Sinnzusammenhang zwischen Höhle - Frau - Kult, enthalten in dem Ur-Wortstamm KALL nach: „Als Sinngehalte bieten sich zwei an, KALL für Frau und KALL für Höhle." (31)
Diesen Ur-Wortstamm trägt auch das lateinische Wort COL'ere in sich. Hier verweist der Paläolinguist auf die Bedeutung des Wortes aushöhlen auf der einen und pflegen auf der anderen Seite: ­..und daher stammen unsere heutigen Begriffe und Wörter ‚KULTUR' und, für uns hier wichtiger: ‚KULT'. Hier sind also in der Doppelbedeutung des Wortes COL'ere ‚Höhle' und ‚Kult' einander unmittelbar benachbart. Wort und tieferer Sinn der 'Höhle' haben sich im Deutschen aber nicht nur zu ‚Hel' und ‚Hölle' und zum ‚Hehlen' für ‚verbergen' weiterentwickelt, sondern auch zu ‚heilig', einer Assoziation, die sich in vielen Sprachen ergeben hat." 32 Auf diese nämliche Ur-Wurzel KALL können zudem weltweit Begriffe für Haus, Gefäß (POKAL, KELCH), oder auch für Rundungen (BALL) zurückgeführt werden.
Zur Veranschaulichung dieser Sprachforschungen und gleichzeitig als Überleitung zu baulichen weltweiten Parallen künstlicher Kulthöhlen mögen die Grabbauten der Etrusker dienen, bei denen Unterschiede festgestellt werden können, was die Bestattungen von Frauen und Männern betrifft: so stellten sie vor den Eingang zum Grabhügel für jede weibliche Tote ein Steinhäuschen. Ebenso legten sie im Inneren des Grabes die Frauen nicht wie die Männer auf die Liegestatt nachahmende Steinklinen sondern auf kastenartige, ebenfalls aus dem anstehenden Stein geschnittene Lager, ... Es gab offenbar im Bewußtsein der Cervetaner (Bewohner der etruskischen Zwölferstadt Cerveteri) eine innere Zusammengehörigkeit von Weibtum und Haus, Hütte, Wohnhöhle.

Monika Löffelmann

Der Text stammt aus dem Heft:
"Dr Erdstall - Kult, Religionsgeschichte, Überlieferung", Seite 18-19
mit freundlicher Genehmigung von Monika Löffelmann

Das komplette Heft kann hier bestellt werden:
moniloeffelmann@aol.com


(26) 'Der Erdstall' 16, S. 8.
(27) 'Der Erdstall' 16, S. 9.
(28) vgl. insbes. Schwarzfischer K.: Zur Frage der Schrazellöcher oder Erdställe;
sowie ders.: Leergräber und Erdställe, in: 'Der Erdstall' 10, S. 67-80.
(29) 'Der Erdstall' 16, S. 10
(30) 'Der Erdstall' 3, S. 5
(31) Fester R., etc.: Weib und Macht, S. 101.
(32) Fester R., etc.: Weib und Macht, S. 103
(33) Vacano v. 0W.: Die Etrusker, S. 113.