Region 9
Magdeburger Börde,  Lausitz und Spreewald, Leipziger Bucht, Sächsisches Hügelland, Erzgebirge


Godewege und Landschaftmythologie

Eine Spurensuche in und um Halle
von Karin Körner (2010)


Auf vielen Wanderungen und Reisen in Deutschland und Europa traf ich immer wieder  auf heilige Symbole und Zeichen, die mich auf eine Landschaftsahnin, auf altes Wissen und Brauchtum hinwiesen. Das sprach mich zutiefst an wie eine verborgene und lange gesuchte Botschaft.

 
So begegnete ich dem Begriff „Landschaftsmythologie˝.
Ich fragte mich: Was ist das eigentlich – Landschaftsmythologie?

Zwei Gedanken bewegten mich:

1.    Es geht darum, das innere Wissen zu spüren, dass wir uns nicht selbst hervorgebracht haben, dass es etwas vor uns gab und gibt. Es geht um die Frage, woher wir und der Kosmos kommen und wohin wir gehen; und es geht darum, dies in uns zu spüren.

2.    Wenn wir uns vorstellen, wie beglückend, wie belebend, ja heilend es sein kann, sich mit der Natur verbunden zu fühlen, gleichsam sich am „Busen der Natur˝, etwa bei einer Wanderung durch duftenden, frischgrünen Frühlingswald – zu fühlen oder wie gewaltig, ja vielleicht auch angstvoll wir Herbst- oder Schneestürme erleben, können wir ahnen, worum es geht.

Mythologie zu begreifen, heißt nach Robert Ranke-Graves ( 1895 – 1985 ): „....das Leben auf den Feldern im Kreislauf der Jahreszeiten....zu beobachten.˝  Weiter las ich bei ihm: Die schwere moralische Verirrung eines rein männlich verstandenen Intellekts bestehe darin, sich ...vom Lebenskreislauf spirituell unabhängig zu machen. In seinem Verständnis sind Mythen...ernste Berichte über alte religiöse Bräuche und Ereignisse – sobald man nur ihre Sprache versteht. Und sie waren einst die „Warnung an den Menschen, er müsse mit der Familie aller Lebewesen, in die er hineingeboren war, in Harmonie existieren, indem er den Wünschen der Herrin des Hauses gehorchte...˝  
( Robert Ranke-Graves „Die Weiße Göttin˝, S.12-15, rororo 1999)

Bei Kurt und Isabelle M. Derungs las ich: Aus den Erfahrungen der Menschen entstand einst die Mythologie z.B. der Quelle, die aus dem Erdschoß sprudelt. Diese war für sie untrennbar mit einer Segen spendenden Ahnfrau verbunden. Die Mythologie der Ahnfrau war für die damaligen Menschen verständlich und konkret:

Die besonderen Stätten von Quellen, Steinen, Bäumen, Grotten und Bergen waren oder repräsentierten die Ahnfrau, die Stammesmutter, die Göttin der Landschaft. Hier konnte die besucht werden, von der die Menschen abstammten, sie bot Schutz und Heilung. Junge Frauen, die kleine Kinder empfangen wollten, badeten in ihren Teichen oder Brunnen. Verstorbene wurden in den Schoß der Erde oder Höhle gelegt und kehrten so zur Großen Mutter zurück.
In dieser Naturverehrung wurde die Wirkkraft der Elemente geschätzt: es gab das alte Wissen um ihre Leben erhaltende Bedeutung bei Krankheiten. Hinter der Heilkraft, dem Schutz und Segen wussten die Menschen Naturkräfte am Werk, denen sie ein Antlitz und ein Wesen gaben:

Es waren die Ahninnen und Ahnen, die Rat gaben, die die Fruchtbarkeit der Felder bewirkten, die die Sippen schützten.
Besonders verehrten sie die Urahnin, da sie als Stammmutter einst das Leben der Menschen hervorbrachte und dies wiederholte sich in jeder Generation durch die Frauen.

Wir sehen, dass hinter der Ahninverehrung eine ganz andere Vorstellung von der Welt steckt, als wir sie im patriarchalen Geschichtsbild und Denkgebäude kennen. Die  vielfältige Mythologie und Naturphilosophie weist auf eine komplexe Kultur hin, die im Einklang und in der Balance mit den umgebenden kreatürlichen Erscheinungen zu leben versuchte. An diese Haltung tasten wir uns heute mühsam wieder heran: an „Umweltbewusstsein˝, „Nachhaltigkeit˝, „Kreislaufdenken˝.....

Im Laufe der Geschichte wurden die Ahninnen zu Göttinnen, so dass wir auch von Göttin-Kultur sprechen können. Diese Göttinvorstellung hatte aber nichts mit unserem heutigen Gottesbild zu tun:

Auch eine Göttin bleibt in mutterrechtlichen Gesellschaften eine Große Ahnfrau, mit der sich die Menschen verwandtschaftlich verbunden fühlten. Die Verwandtschaft wurde nicht nur innerhalb des Clans, des Stammes oder der Sippe gepflegt. Die Prinzipien verwandtschaftlicher Verbundenheit wurde auf die Landschaft übertragen. So war die Erde dadurch integraler Bestandteil der menschlichen Gemeinschaft, so wie die Gemeinschaft in die natürliche Ahnenwelt integriert war, - was von einer hochstehenden Kultur und Philosophie zeugt.   In der Landschaft erkannte man ganz konkret den Körper der Ahnin: ein Hügel war ihr Bauch, Doppelberge waren ihre Brüste, Höhlen und Quellen ihr Schoß, Flüsse ihre Adern, Steinformen ihre Fußabdrücke...

So vielfältig auch die Sinnbilder der Ahnin erscheinen, ihre Symbolik ist doch einheitlich: die Aspekte und Bedeutung der Symbole wiederholen sich, sei es in Europa oder beispielsweise in Mexiko.

Woher wissen wir heutigen Menschen aber von der Existenz solcher alten Ahninverehrung?  Da gibt es vielfache Spuren: Volkserzählungen, mythologische Sagen und Bräuche, die sich auf bestimmte Plätze oder Landschaften beziehen, aber auch Ortsnamen oder überlieferte Landschaftsbezeichnungen und archäologische Funde spielen hier zusammen. Geschichtlich gesehen kommen wir so bis in die Zeit vor der Entwicklung patriarchaler Gesellschaften zurück, in die Epoche des Neolithikums.

Diese jungsteinzeitliche matriarchale Kultur (vor 10.000 bis 2000 v.u.Z.) war die Zeit der Göttinnenverehrung; in Mitteleuropa finden wir in Frau Holle die Dreifältige Göttin als alte vorgermanische und vorkeltische Große Göttin.
Eine andere Spur ist die spätere Umweihung alter heiliger Plätze in Form der Marianisierung: sehr viele Marienorte führen nämlich indirekt an vorchristliche Stätten einer Großen Ahnfrau, wo sie schon Jahrtausende zuvor verehrt wurde.

Es ist spannend, Marienorte mit landschaftsmythologischen Augen zu betrachten. Patriarchale Eroberer wussten genau: wer die Ahnfrau und ihre Landschaft besitzt, beherrscht auch das Volk der Göttin – und bis heute werden mit mutterrechtlichen Symbolen Machtspiele betrieben.

Aber diesem Missbrauch steht die Naturphilosophie der Ahninkultur diametral gegenüber:Denn alle Menschen waren Kinder der Stammesmutter – so konnte sie niemand für sich allein in Anspruch nehmen.
Ebenso unvorstellbar war es, sie zu besitzen: ihre Quellen, Flüsse, Früchte, Berge, Wälder, Tiere...!

Im Laufe der Geschichte passierte es aber im Zuge der Besitzergreifung und christlichen Überformung der uralten Ahninorte und Kultstätten, daß die alte Naturverehrung in die Volksfrömmigkeit überging und die Ahnin in den „Untergrund˝ tauchte, zum Beispiel in die Sagenwelt. Göttinnen wie Dana , Noreia oder Hel überlebten in der Sagenwelt als „Weiße Frauen˝ oder als Frau Holle in der Erinnerung der Menschen. Aber solange das Volk die heiligen Steine, Quellen, Bäume, Pflanzen, Berge weiter verehren konnte, war „Maria˝ nur ein anderer Name der Ahnfrau! Vordergründig scheint es in vielen Wallfahrtsorten die biblisch-kirchliche Maria zu sein, die verehrt wird als das vom Vatergott abhängige sich unterordnende Geschöpf, - darunter aber finden wir die Maria des Volkes, also die Große Ahnfrau, die an ihren magischen Stätten ihren Kindern Heilkraft, Erquickung und Stärkung schenkt.
Dieses Wissen und diese Sicht machten mir mit meiner protestantisch-rationalen Sozialisierung einleuchtend klar, was die eigentliche Anziehungskraft bedeutender oder lebendiger Marienwallfahrtsorte noch heute ausmacht!

(Näheres dazu in „Magische Stätten der Heilkraft˝ von Kurt u. Isabelle M.Derungs,  edition amalia 2006; außerdem „Geheimnis Odilienberg˝ v. Petra van Cronenburg, Diederichs Verlag 1998; auch Heide Göttner-Abendroth/Kurt Derungs „Mythologische  Landschaft Deutschland˝, edition amalia 1999 ; Sophie Cassagnes-Brouquet „Vierges Noires˝ Editions du Rouergue, 2000)

Die Landschaftsgöttin mit ihren heiligen Symbolen und Zeichen lässt sich manchmal in der unmittelbaren Nachbarschaft finden. Ich habe für mich Heimatsagen wiederentdeckt und darin verborgene Botschaften aus vorchristlichen und matriarchalen  Zeiten gefunden.

In meiner Geburtsstadt Halle an der Saale gibt es viele Sagen von besonderen und starken Frauen, von Wasserwesen und Nixen.....Das ist kein Wunder, denn seinen Ursprung und seinen mittelalterlichen Reichtum verdankt Halle dem Wasser. Genauer: salzigem Wasser, oder wie der Name Halle’s sagt – dem Salz. Denn das hallesche Salz trat in Form von Solequellen zutage und war deshalb sehr leicht zu gewinnen: das Solewasser mußte nur sieden bzw. verkochen. Zurück blieb das Salz, das deshalb heute noch Siedesalz heißt. 

(Bild: Siedeanlagen.tiff, Bildunterschrift:  Blick auf alte Salzsiedeanlagen)

So hatten die Menschen damals sprichwörtlich „Schwein˝, dass sie so leicht den kostbaren Stoff gewinnen konnten. Wie das genau zuging , erzählt die Sage von der „Entdeckung der Salzquellen zu Halle˝.



Die Entdeckung der Salzquellen zu Halle

Vor undenklichen Zeiten hütete einmal ein Schweinehirt seine Herde an der Stelle, wo später, etwa am heutigen Hallmarkt in Halle, die Salzkoten der Halloren standen. Es herrschte sommerliche Hitze , und so wälzte sich eine Sau, die Abkühlung suchte, in einer Wasserlache. Als sie von der Sonne wieder trocken geworden war, glitzerten an ihren Borsten lauter kleine Kristalle. Als das der Schweinehirt bemerkte, leckte er verwundert daran und stellte fest, daß es sich dabei um Salz handelte. Das meldete er den Bewohnern der Ansiedlung, und sie begannen zu graben. Da sprudelte ihnen noch mehr Sole entgegen, und so führte dieser Fund dazu, dass Halle durch das Salz allmählich zu Reichtum und Wohlstand kam.


(Bild: Hallore mit  Salzkorb)

Seit Kindertagen kenne ich diese Sage.Als ich sie vor kurzem wieder las, war das wie ein Aha!-Effekt: Schimmert hier nicht mehr durch als nur Salzentdeckung?

Die Schweine in der Sage werden zwar gehütet, sind also domestiziert bzw. Haustiere. Trotzdem ist die erhitzte Sau nicht unrein oder schmutzig, sondern die Überbringerin des Kulturstoffes Salz – und damit ist sie Überbringerin von Glück, Segen und Reichtum – im Sinne eines guten Lebens für alle!

Noch heute kennen wir das Symbol des „Glücksschweines˝;  hat nicht auch die Gestalt des „Sparschweines˝ einen ähnlichen Sinn?

Aber ich musste auch an die uralte heilige Schweinegöttin denken, - wie sie Jutta Voss in ihrem Buch „Das Schwarzmondtabu˝ beschrieb – an die „verflucht heilige Wildsau˝, das mythische Symboltier des Menstruationsblutes. Die Heiligkeit dieses Tieres ist uns ebenso verloren gegangen wie uns die Heiligkeit unseres monatlichen Frauenblutes ausgetrieben wurde!

Damit hat auch ein weiteres heimatliches Zeichen zu tun: das hallesche Stadtwappen mit Mond und Sternen: es zeigt eine liegende Mondsichel! Diese ist aber ein Zeichen der Schwarzmondmenstruationsphase und ist damit Zeichen der kosmischen Unfruchtbarkeit im dritten Teil des Jahres – d e r sakralen Phase im Matriarchat. So ist also die liegende Mondsichel ein Symbol für die Göttin - ...und ist uns über den Bezug zu Maria (!) im Stadtwappen erhalten geblieben.

                         
             
(Bilder: Mariensiegel, Siegel, Stadtwappen)

In den Sagen wird deutlich, dass Salz und Sole anfangs von den Menschen durchaus als Geschenk der Göttin, der Großen Mutter, also der Ahnfrau, gesehen wurde. Es wurde entsprechend geehrt und geachtet. Die Sage vom Gutjahrbrunnen erzählt davon:


Der Gutjahrbrunnen

Einer der hallischen Salzbrunnen – er ist noch heute in der Oleariusstraße 9 zu sehen – heißt der Gutjahrbrunnen. An seiner Stelle soll vor undenklichen Zeiten eine Wiese gewesen sein, auf der vom Frühjahr bis zum Herbst die Hirten ihre Herden weideten.

Einem dieser Hirten träumte eines Nachts, er liege auf dieser Wiese, und obgleich es Frühling war, sei alles um ihn herum verdorrt, die Blätter seien von den Bäumen gefallen und Schnee sei niedergegangen. Nur die Stelle, auf der er lag, sei verschont geblieben und habe weiter gegrünt und geblüht.

Das träumte er auch in den beiden folgenden Nächten, nur dass ihm in der dritten Nacht eine Stimme wie aus der Tiefe zurief: „Erlöse mich, so will ich dich reich belohnen!˝ Und dazu strahlte ein Stern von wunderbarer Helligkeit vom Himmel herab.

Da er sich nicht erklären konnte, was das zu bedeuten habe, ging er zu den heidnischen Priestern auf den Kröllwitzer Ochsenberg und fragte sie um Rat.

Sie sprachen, er solle zur Zeit des nächsten Vollmondes vor Sonnenaufgang einen Wacholderzweig schneiden, wieder zu ihnen kommen, diesen Zweig in das Blut des Opferstiers tauchen, um sich dadurch vor bösen Geistern zu schützen, und dann warten, bis der Winter seinen Einzug hielte. Es wird dann, wenn der erste Schnee gefallen sei, eine Stelle auf der Wiese davon unbedeckt bleiben, drei Schuh lang und drei Schuh breit.

In deren Mitte solle er ein Loch von drei Schuh Tiefe graben und das Wacholderreis hineinlegen. Danach werde er einen großen Schatz finden.

Lange musste der Hirte warten, bis sich diese Verheißung erfüllte. Schon war die Wintersonnenwende vorüber, als er in einer Nacht wiederum nach der vorausgesagten Erscheinung Ausschau hielt.

Da bemerkte er den hellen Stern, den er in der dritten Traumnacht gesehen hatte, und zugleich fielen aus dem wolkenlosen Himmel unzählige kleine weiße Sternchen wie Kristalle auf die Wiese herab. Nur eine Stelle blieb frei.Dorthin ging der Hirte und grub seinen Wacholderzweig in die Erde.

Kaum hatte dieser die Erde berührt, stieg Dampf auf, Wasser begann zu brodeln, und schließlich flammte ein Feuer empor. Dann erschien eine wunderschöne Jungfrau mit einem goldenen Diadem im Haar. Sie sprach zu ihm: „Ich war Jahrhunderte durch zwei grimme Riesen gefesselt und musste ihnen dienen. Du hast mich erlöst, und zum Dank schenke ich dir diese Quelle, die fortan hier sprudelt. Sie enthält etwas Kostbares, das dir und deinen Nachkommen zu großem Reichtum verhilft, solange ihr treu und ehrlich Nutzen daraus zieht. Sollte das aber nicht der Fall sein, wird der Born versiegen.˝

Der Hirte war, von der Erscheinung geblendet, zu Boden gestürzt, und als er sich wieder erhob, war sie verschwunden. An der Stelle aber, wo die Nymphe gestanden hatte, sprudelte wirklich eine Quelle, und bald erkannte der Hirte, dass sie Sole spendete.

Dies geschah aber in derselben Nacht, da zu Bethlehem Jesus Christus geboren wurde, und weil die Quelle in diesem Jahr des Heils entstanden war, nannte man sie bald den Gutjahrbrunnen.
   
Die Sage vom Gutjahrbrunnen ist wahrscheinlich nach der Christianisierung der slawischen und  sächsischen Siedlungsgebiete entstanden, vermutlich um das alte Weltbild zu bewahren. Ab Mitte des 8. Jahrhunderts u. Z. wurden diese Siedlungsgebiete mit militärisch-strategischen Mitteln unterworfen. 806 wird Halle als Grenzfeste (Saalekastell) in einer Chronik (des sogenannten) Karls des Großen genannt. Dort werden die Slawen Sorben genannt; diese hatten bereits das Salzsieden betrieben. Deshalb hieß der Brunnen der Sage auch der Wendische Born (Wenden ist eine andere Bezeichnung für Slawen).

Welche Botschaft enthält aber die Sage im Zusammenhang mit unserem Thema der Landschaftsmythologie? Sie entsteht für mich wie ein Puzzle aus verschiedenen Facetten der Handlung:

-    Der Hirt lebt natureingebunden, er nimmt seine Träume ernst und folgt seiner inneren Stimme. Ist er ein matriarchaler Mann des alten Kultes (dort wo er liegt „grünt˝ und blüht es)?  - Später gibt es den Begriff des „grünen Mannes˝...!
-    Es gibt noch vorchristliche Kultstätten  (vielleicht mit einem Stierkult?), wo sich die Menschen Rat holen und wo die Rhythmen der Natur und des Jahreslaufes geehrt wurden.
-    Altes Wissen wird angewendet, die Elemente werden lebendig.
-    Die gefesselte Quellgöttin wird durch die Geduld und Verlässlichkeit des Hirten befreit; d.h. Gegenseitigkeit ist Not – wendig, notwendend!
-    Sie zeigt sich – befreit -  als schenkende Ahnfrau, als Reichtumsspenderin, als Landschaftsgöttin.
-    Sie schenkt  SALZ als Solequelle. Salz ist eine Substanz, die als Zeichen und Symbol für mütterlich-erneuerndes Blut angesehen wurde – als magisches Zeichen von Blutsverwandtschaft, wo Menschen einander kein Leid zufügen konnten.  (Hier ist wieder die mütterliche „Geburtsblutverwandtschaft˝ gemeint, denn zum biologischen Vater besteht genetische, aber keine Blutsverwandtschaft.) Dieser Sinn ist auch hinter dem traditionellen Volksbrauch, bei Hochzeiten oder beim Gästeempfang Brot und Salz zu reichen,  zu erkennen: damit geben die Menschen zu erkennen, dass sie sich wie Verwandte oder Geschwister ansehen und behandeln wollen. In dieses Bedeutungsfeld gehört auch das Salzgeschenk der Halloren bei den Neujahrsempfängen an die jeweils Regierenden – selbst wenn dies den Handelnden heute oft nicht mehr bewusst ist. Wenn der Hirt und seine Nachkommen also „treu und ehrlich˝ Nutzen aus dem Geschenk der Göttin ziehen sollen, dann ist wohl dieser verbindend-verbindliche Sinn gemeint ohne Gier und Profitdenken. (Inzwischen sind die meisten halleschen Salzquellen nicht mehr in Betrieb, letzte Schließungen waren 1846 u. 1925 .......bis auf die Siedestätte in der Saline, die heute Museum ist.)


(Bild: Salinemuseum)

-    Der Bezug zur Christnacht erscheint zunächst wie ein christlicher Mantel um die Botschaft aus der alten Religion. Aber die Geburtsnacht Christi hat ja ebenfalls vorchristliche Wurzeln und wurde in frühen Zeiten am 6. Januar gefeiert, heute noch der Epiphaniastag im Kirchenjahr. Der 6. Januar war aber das alte Erscheinungsfest der Göttin (in Italien kommt an diesem Tag  Befana zu den Kindern, in Südtirol zieht sie in Gestalt von drei Frauen durchs Dorf...). SIE erscheint also hier mit ihrem Stern!!!                                                                                                                                               

Die alte Volksreligion ist auch in anderen halleschen Sagen, wie den Nixensagen und Frauensagen zu erkennen:


Die Teufelsküche bei Kröllwitz

Saaleabwärts hinter Kröllwitz befindet sich eine Felsengrotte, die von den Fischern die Teufelsküche genannt wurde. Sie benutzen sie selbst oft, um sich dort etwas für ihr leibliches Wohl zuzubereiten.
Aber einmal im Jahr, am weißen Sonntag, versammelten sich in dieser Höhle die Nixe und Nixen aus der Saale und feierten darin ein großes Fest. Die Fischer wussten das und setzten ihnen jedes mal, ehe es begann, Kuchen und Wein in die Grotte. Und die Nixen segneten ihnen zum Dank für das kommende Jahr ihren Fischfang.

(Variationserzählung:Die Fischer von Kröllwitz und die Nixen:
In den Porphyrfelsen der alten Wüstung Ersdorf bei Kröllwitz befindet sich noch heute eine ziemlich große Höhle, das „Schwalchloch˝ oder die „Nixenküche˝ genannt. Jedes Jahr, am Sonntag nach Ostern, stellten die Kröllwitzer Fischer Wein und Kuchen hinein. Dann kamen die Nixen und veranstalteten ein fröhliches Festmahl. Zum Dank dafür war den Fischern das ganze Jahr hindurch ein reicher Fang gewiss.)

(Bild: Saaleberge)

Hier wird die Landschaftsahnin in Gestalt der Nixen mit Kuchen und Wein geehrt; später sprach Man(n) von „Opfer-Handlung˝ ...! Das Gleiche tut Rotkäppchen, wenn sie der Groß(en)mutter Kuchen und Wein bringt.....oder die Frauen im Alten Testament der Bibel, die Kuchen zu Ehren der Göttin backen.... Hier herrscht Fröhlichkeit und „gutes Leben˝ und  bei den Beteiligten ist  Geben und Nehmen in der Balance, - und das ist ein wichtiger Grundzug der matriarchalen Sozialordnung.

In der nächsten Sage geht es um die Namensgebung eines ehemaligen uralten Kultberges:



Der Name des Giebichensteins


Als der römische Feldherr Drusus kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung sich anschickte, ganz Germanien zu unterwerfen und zur römischen Provinz zu machen, drang er – wie erzählt wird – mit seinen Legionen auch bis zur Saale vor. Am Fuße des Felsens, auf dem heute die Burgruine Giebichenstein steht, richtete er ein Heerlager ein. Von dort aus wollte er die umliegenden Gebiete erobern.

Eines Abends stand Drusus am Saaleufer und überlegte, wo er am günstigsten eine Brücke über die Saale schlagen könnte. Da trat plötzlich eine Frau von übermenschlicher Größe auf ihn zu, schaute ihn mit zornigem Blick an und sprach:  „Geh wec vom Stein, din Lewen is mein, kümst newer heim!˝ Danach verschwand sie.  Drusus war durch die Gestalt und ihre Worte zu Tode erschreckt worden. Am anderen Morgen ließ er das Lager abbrechen und ordnete den Rückzug an.

Von Todesahnung erfüllt, trieb er sein Ross mit den Sporen unaufhörlich an. Schließlich strauchelte das abgehetzte Tier, Drusus stürzte herab und brach sich den Schenkel. Als er nun so darnieder lag, kreisten Wölfe um das Lager, Vorzeichen seines nahen Todes. Am dreißigsten Tag nach dem Unfall starb der römische Feldherr.   Von jenem Wort der geheimnisvollen Frau „Geh wec(h) vom Stein˝ aber bekam der Giebichenstein seinen Namen.

In dieser Sage steht die Landschaftsahnin mit göttlicher Macht über Leben und Tod vor uns. Die patriarchale Bemächtigung und Besetzung ihrer Erde,  ihrer Landschaft mit den vielen malerischen Porphyrkuppen und Höhen ist ihr ein Gräuel. Sie vertreibt den Feldherrn (der mir mit seiner Angst durchaus Unrechtsbewusstsein auszudrücken scheint) und seine Krieger, indem sie diese in ihre geschöpflichen Grenzen verweist.

Am Fuße des Giebichensteins wurden übrigens bei archäologischen Untersuchungen römische Münzen, Waffen und eine Totenstätte gefunden.

(Bild: Giebichenstein02.tiff, Bildunterschrift: Burg Giebichenstein an der Saale)

In einer Variante dieser Sage ist die große weiße Frau, die Drusus erscheint, die Göttin Frigga – allerdings als „Gattin˝ von Wotan, des mächtigsten der germanischen Götter, dem der Berg als Heilige Stätte geweiht war. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf schon vorchristliche Patriachalisierung der heiligen Ahninstätte.

Gegenüber vom Giebichenstein auf der anderen Seite der Saale liegt der Kröllwitzer Ochsenberg, auch ein alter Kultplatz. Hier spielt die Sage:


Der Schäfer von Kröllwitz

Auf dem Kröllwitzer Ochsenberg  lagen einst viele große Steine, und deren Herkunft wird so erklärt:
Eines Morgens trieb ein Schäfer seine Herde auf den Berg. Dort trat eine alte Frau an ihn heran und bat um ein Stück Brot. Das war die Frau Holla.   Sei es, dass der Schäfer missgelaunt war, weil er schlecht geschlafen hatte, oder dass er im Übermut handelte, jedenfalls nahm er seinen Hütestab, stach damit in eine Pfütze und spritzte der Alten Schlamm ins Gesicht. „Da, nimm das, du alte hutzlige Gurke!˝ rief er. Kaum hatte er das gesagt, war die Bittstellerin bei ihm und schlug ihm mit ihrem Stecken ins Gesicht. Davon wurden er, seine ganze Herde und die Hütehunde zur Strafe in Steine verwandelt.

Die Landschaftsahnin hat in dieser Sage sogar einen Namen – es ist Frau Holla! Sie war die Große Göttin Mitteleuropas in matriarchalen Zeiten. Was hier wie Strafe erscheint und benannt wird, drückt meines Erachtens nur aus, was den Schäfer sowieso schon kennzeichnet: seines Herzens Härte und seine (eigentlich patriarchaltypische) Verachtung von Alter und Weiblichkeit..... Er war bereits innerlich versteinert und das übertrug sich dann letztlich durch die Schmähung der Göttin auf die ihm anvertraute Herde, die Hunde und ihn selbst – alle werden zu unbeweglichen Steinen.

Dass die Herkunft großer Steine, noch dazu auf einem Kultplatz aus vorchristlicher Zeit, erklärt werden muss, führt mich zu weiteren Überlegungen. Ähnliche Sagen gibt es an vielen Orten aus der Megalithkultur. Auch in Halle gibt es viele Funde und Stätten, die die steinzeitliche Besiedlung und Bedeutung dieser Gegend belegen. Auf dem Reilsberg, wo sich der heutige Bergzoo befindet, sind steinzeitliche Bestattungen (ein gewaltiges Hügelgrab mit großen Steinplatten ausgesetzt und überdeckt) nachgewiesen, die mindestens 4000 Jahre alt sind. Auch in der nahegelegenen Dölauer Heide (!) – einem alten Waldgebiet, finden sich eine Vielzahl von steinzeitlichen Bestattungen und Siedlungsresten (ein ca. 20 ha. großes befestigtes Gebiet wies auch Salzgewinnung nach....die ältesten Funde sind ca. 5500 Jahre alt.

So ist diese Steinsage auch ein Hinweis auf  solche alten Kulturschichten.

(Bild: „Steinerne Jungfrau˝ bei Halle-Dölau)

Zuletzt möchte ich von einer Nixensage erzählen, die mich mit meiner mütterlichen Familie und den AhnInnen aus der Hallorenzunft1) besonders verbindet:




(Bild: Fähnrich und Hallorenbraut, beim Pfingstbier der Halloren)








Die schönen Töchter des Nixenkönigs


Am Fuße des Felsens Giebichenstein, tief unten in der Saale, wohnt in einem durchsichtigem Kristallpalast der Nixenkönig. Er hat viele anmutige Töchter, die sehr gut und hilfreich zu den Menschen sind. An hellen Sommertagen, wenn die warmen Sonnenstrahlen durch das kühle Wasser bis hinunter in den Palast schimmern, kommen sie herauf ans Ufer. Dann singen sie mit lieblichen Stimmen ihre Lieder und kämmen dabei anmutig ihr schönes, langes Haar.
Manchmal gehen sie nachts zu den Solebrunnen und tauchen ihre Haarsträhnen in die Sole. Am Morgen dann  glitzern die Salzkristalle im Haar wie Diamanten.

Wenn bei den Menschen ein Kind geboren wird, stehen sie gern Pate. Einem Mädchen setzen sie heimlich nachts eine zierlich geflochtene Nelkenkrone auf das Köpfchen. Die Blumen aber verwandeln sich nach drei Tagen in reines Gold. Den kleinen Knaben legen sie ebenso leise eine Kette  aus achtzehn Mohnköpfen gebunden um den Hals, die nach drei Tagen zu puren Silber wird.

Wenn Kinder in der Saale baden, lehren die Nixen ihnen das Schwimmen, und wenn ein Kind ins Wasser fällt, tragen sie es sanft zum Ufer zurück. Kommt ein Mensch dazu, wenn die Nixen gerade auf den Saalewiesen sitzen und ihre eigenen Kinder wiegen, dann fordern sie ihn oft auf, ihnen zu helfen. Tut er das, schenken sie ihm dafür zum Dank einen goldenen Haselstecken.

Eine schöne Sage! Oder zu romantisch? Vielleicht eine Projektion der Sagensammler zurück in bessere, aber verlorene Zeiten?! Für mich steckt mehr drin! Zunächst ganz persönliches: die Nelkenkrone – das Patingeschenk der Nixen an die Mädchen, gibt es ganz real bis heute. Sie ist die Brautkrone der Hallorenfrauen und gehört zur Tracht der Hallorenbraut. Meine Großmutter war so eine Hallorenbraut, ich habe sie dafür als Kind sehr bewundert...   Aber diese Krone hat auch tiefen Symbolwert: sie ist aus Gewürznelken (ein Heilmittel), die vergoldet werden, gefertigt.Das geschmückte Rund – mit rotem Band umschlungen, drückt für mich die Ganzheit aus, aus der das Leben kommt. Und das ist nun mal das weibliche Geschlecht, das den Lebensreichtum (Symbol Gold), die nächste Generation, hervorbringt. Die Hallorenbräute tragen deshalb gleichsam die „Krone des Lebens˝...

(Bild: Brautkrone der Hallorin)

Auch die Mohnköpfe, die zu Silber werden, gibt es ganz real. Die Hallorenmänner tragen als Festtracht unter ihrem Rock eine Brokatweste, die mit 18 Silberknöpfen geschlossen wird, dabei hat jeder Knopf einen eigenen Namen. Drückt das Silber und die Form der Mohnfruchtkapsel symbolisch nicht die Beziehung zu Mond und damit zu Ruhe, zu Nacht, zu nährender heilender Weiblichkeit aus? Die zu schützen, zu unterstützen, zu ehren ist?!

.....Ich denke, die Nixenpatinnen der Sage wollten die Jungen zu dieser Lebensaufgabe führen und sie noch als Erwachsene mit dem 18-maligen Knöpfen immer wieder daran erinnern!....Ob mein Urgroßvater solche Gedanken hatte, weiß ich nicht. Aber seine Tracht hat er stets stolz getragen.

(Bild: Silberknöpfe an der Hallorentracht)

Noch ein Wort zum Haselstecken: in der Baumsymbolik sah man im Haselstrauch die Kraft der Verjüngung und der Wiedergeburt ebenso verkörpert wie die Kraft der Wunscherfüllung... Die Nixen der Sage sind also Segenbringerinnen, Schutzgeberinnen und Hüterinnen der Kinder. Zu solchem Verhalten und Tun möchten sie auch die Menschen anregen und einladen.

Vielleicht haben die Salzsieder – trotz ihrer späteren sehr patriarchalen Zunftordnung2) – doch von Nixen gelernt. Denn die Halloren haben sich immer für das Gemeinwohl eingesetzt und sich dafür in die Pflicht nehmen lassen:
Sie waren hervorragende Schwimmer und retteten daher manche Leute „aus Wassersnoth˝.  Oder sie halfen bei „Feuersgefahr˝.  Bis zur Einführung der hauptamtlichen Feuerwehr in der Zeit Friedrich des Zweiten von Preußen waren die Halloren für den Löschdienst in Halle verantwortlich. Später waren sie als Schwimmmeister tätig, bei ihnen lernten auch die armen Kinder das Schwimmen. Seit den Pestzeiten tragen die Halloren auch die Verstorbenen zu Grabe – bis heute.

So klingen aus diesen Sagen Botschaften einstiger matriarchaler Kulturformen. Wenn wir sie hören, können sie uns heute gesellschaftserneuernde Impulse geben, - zum Beispiel die Vision, uns dem GUTEN LEBEN FÜR ALLE zu verpflichten. Wenn Visionen in uns leben, werden sie auch uns und die Gesellschaft verändern!
So wie ich, wie wir es in der Zeit um 1989 erlebten, in Dresden, Leipzig, Mittweida, Halle und an vielen, vielen anderen Orten!


Weitere Literatur:
Nixenmärchen und Sagen um die Saale, fliegenkopfverlag Halle 1991, (nacherzählt von Karin Schubert)
Der Saalaffe – Sagen aus Halle und Umgebung, erzählt von Manfred Lemmer,VEB Postreiter-Verlag Halle 1990
Halle 806 bis 1806,von Werner Freitag,Mitteldeutscher Verlag 2006
Kulturgeschichte der Halleschen Salinen,von Dr. Johannes Mager,1995
Die Dölauer Heide – Waldidylle in Großstadtnähe,Autorenkollektiv, Magistrat der Stadt Halle (1991)
Halloren-Geschichten, im Dialekt erzählt von Robert Moritz,1997