So begegnete ich dem Begriff „Landschaftsmythologie˝.
Ich fragte mich: Was ist das eigentlich – Landschaftsmythologie?
Zwei Gedanken bewegten mich:
1. Es geht darum, das innere Wissen zu spüren, dass wir uns nicht
selbst hervorgebracht haben, dass es etwas vor uns gab und gibt. Es geht
um die Frage, woher wir und der Kosmos kommen und wohin wir gehen; und
es geht darum, dies in uns zu spüren.
2. Wenn wir uns vorstellen, wie beglückend, wie belebend, ja heilend
es sein kann, sich mit der Natur verbunden zu fühlen, gleichsam sich am
„Busen der Natur˝, etwa bei einer Wanderung durch duftenden,
frischgrünen Frühlingswald – zu fühlen oder wie gewaltig, ja vielleicht
auch angstvoll wir Herbst- oder Schneestürme erleben, können wir ahnen,
worum es geht.
Mythologie zu begreifen, heißt nach Robert Ranke-Graves ( 1895 – 1985
): „....das Leben auf den Feldern im Kreislauf der Jahreszeiten....zu
beobachten.˝ Weiter las ich bei ihm: Die schwere moralische Verirrung
eines rein männlich verstandenen Intellekts bestehe darin, sich ...vom
Lebenskreislauf spirituell unabhängig zu machen. In seinem Verständnis
sind Mythen...ernste Berichte über alte religiöse Bräuche und Ereignisse
– sobald man nur ihre Sprache versteht. Und sie waren einst die
„Warnung an den Menschen, er müsse mit der Familie aller Lebewesen, in
die er hineingeboren war, in Harmonie existieren, indem er den Wünschen
der Herrin des Hauses gehorchte...˝
( Robert Ranke-Graves „Die Weiße Göttin˝, S.12-15, rororo 1999)
Bei Kurt und Isabelle M. Derungs las ich: Aus den Erfahrungen der
Menschen entstand einst die Mythologie z.B. der Quelle, die aus dem
Erdschoß sprudelt. Diese war für sie untrennbar mit einer Segen
spendenden Ahnfrau verbunden. Die Mythologie der Ahnfrau war für die
damaligen Menschen verständlich und konkret:
Die besonderen Stätten von Quellen, Steinen, Bäumen, Grotten und Bergen
waren oder repräsentierten die Ahnfrau, die Stammesmutter, die Göttin
der Landschaft. Hier konnte die besucht werden, von der die Menschen
abstammten, sie bot Schutz und Heilung. Junge Frauen, die kleine Kinder
empfangen wollten, badeten in ihren Teichen oder Brunnen. Verstorbene
wurden in den Schoß der Erde oder Höhle gelegt und kehrten so zur Großen
Mutter zurück.
In dieser Naturverehrung wurde die Wirkkraft der Elemente geschätzt: es
gab das alte Wissen um ihre Leben erhaltende Bedeutung bei Krankheiten.
Hinter der Heilkraft, dem Schutz und Segen wussten die Menschen
Naturkräfte am Werk, denen sie ein Antlitz und ein Wesen gaben:
Es waren die Ahninnen und Ahnen, die Rat gaben, die die Fruchtbarkeit der Felder bewirkten, die die Sippen schützten.
Besonders verehrten sie die Urahnin, da sie als Stammmutter einst das
Leben der Menschen hervorbrachte und dies wiederholte sich in jeder
Generation durch die Frauen.
Wir sehen, dass hinter der Ahninverehrung eine ganz andere Vorstellung
von der Welt steckt, als wir sie im patriarchalen Geschichtsbild und
Denkgebäude kennen. Die vielfältige Mythologie und Naturphilosophie
weist auf eine komplexe Kultur hin, die im Einklang und in der Balance
mit den umgebenden kreatürlichen Erscheinungen zu leben versuchte. An
diese Haltung tasten wir uns heute mühsam wieder heran: an
„Umweltbewusstsein˝, „Nachhaltigkeit˝, „Kreislaufdenken˝.....
Im Laufe der Geschichte wurden die Ahninnen zu Göttinnen, so dass wir
auch von Göttin-Kultur sprechen können. Diese Göttinvorstellung hatte
aber nichts mit unserem heutigen Gottesbild zu tun:
Auch eine Göttin bleibt in mutterrechtlichen Gesellschaften eine Große
Ahnfrau, mit der sich die Menschen verwandtschaftlich verbunden fühlten.
Die Verwandtschaft wurde nicht nur innerhalb des Clans, des Stammes
oder der Sippe gepflegt. Die Prinzipien verwandtschaftlicher
Verbundenheit wurde auf die Landschaft übertragen. So war die Erde
dadurch integraler Bestandteil der menschlichen Gemeinschaft, so wie die
Gemeinschaft in die natürliche Ahnenwelt integriert war, - was von
einer hochstehenden Kultur und Philosophie zeugt. In der Landschaft
erkannte man ganz konkret den Körper der Ahnin: ein Hügel war ihr Bauch,
Doppelberge waren ihre Brüste, Höhlen und Quellen ihr Schoß, Flüsse
ihre Adern, Steinformen ihre Fußabdrücke...
So vielfältig auch die Sinnbilder der Ahnin erscheinen, ihre Symbolik
ist doch einheitlich: die Aspekte und Bedeutung der Symbole wiederholen
sich, sei es in Europa oder beispielsweise in Mexiko.
Woher wissen wir heutigen Menschen aber von der Existenz solcher alten
Ahninverehrung? Da gibt es vielfache Spuren: Volkserzählungen,
mythologische Sagen und Bräuche, die sich auf bestimmte Plätze oder
Landschaften beziehen, aber auch Ortsnamen oder überlieferte
Landschaftsbezeichnungen und archäologische Funde spielen hier zusammen.
Geschichtlich gesehen kommen wir so bis in die Zeit vor der Entwicklung
patriarchaler Gesellschaften zurück, in die Epoche des Neolithikums.
Diese jungsteinzeitliche matriarchale Kultur (vor 10.000 bis 2000
v.u.Z.) war die Zeit der Göttinnenverehrung; in Mitteleuropa finden wir
in Frau Holle die Dreifältige Göttin als alte vorgermanische und
vorkeltische Große Göttin.
Eine andere Spur ist die spätere Umweihung alter heiliger Plätze in
Form der Marianisierung: sehr viele Marienorte führen nämlich indirekt
an vorchristliche Stätten einer Großen Ahnfrau, wo sie schon
Jahrtausende zuvor verehrt wurde.
Es ist spannend, Marienorte mit landschaftsmythologischen Augen zu
betrachten. Patriarchale Eroberer wussten genau: wer die Ahnfrau und
ihre Landschaft besitzt, beherrscht auch das Volk der Göttin – und bis
heute werden mit mutterrechtlichen Symbolen Machtspiele betrieben.
Aber diesem Missbrauch steht die Naturphilosophie der Ahninkultur
diametral gegenüber:Denn alle Menschen waren Kinder der Stammesmutter –
so konnte sie niemand für sich allein in Anspruch nehmen.
Ebenso unvorstellbar war es, sie zu besitzen: ihre Quellen, Flüsse, Früchte, Berge, Wälder, Tiere...!
Im Laufe der Geschichte passierte es aber im Zuge der Besitzergreifung
und christlichen Überformung der uralten Ahninorte und Kultstätten, daß
die alte Naturverehrung in die Volksfrömmigkeit überging und die Ahnin
in den „Untergrund˝ tauchte, zum Beispiel in die Sagenwelt. Göttinnen
wie Dana , Noreia oder Hel überlebten in der Sagenwelt als „Weiße
Frauen˝ oder als Frau Holle in der Erinnerung der Menschen. Aber solange
das Volk die heiligen Steine, Quellen, Bäume, Pflanzen, Berge weiter
verehren konnte, war „Maria˝ nur ein anderer Name der Ahnfrau!
Vordergründig scheint es in vielen Wallfahrtsorten die
biblisch-kirchliche Maria zu sein, die verehrt wird als das vom
Vatergott abhängige sich unterordnende Geschöpf, - darunter aber finden
wir die Maria des Volkes, also die Große Ahnfrau, die an ihren magischen
Stätten ihren Kindern Heilkraft, Erquickung und Stärkung schenkt.
Dieses Wissen und diese Sicht machten mir mit meiner
protestantisch-rationalen Sozialisierung einleuchtend klar, was die
eigentliche Anziehungskraft bedeutender oder lebendiger
Marienwallfahrtsorte noch heute ausmacht!
(Näheres dazu in „Magische Stätten der Heilkraft˝ von Kurt u. Isabelle
M.Derungs, edition amalia 2006; außerdem „Geheimnis Odilienberg˝ v.
Petra van Cronenburg, Diederichs Verlag 1998; auch Heide
Göttner-Abendroth/Kurt Derungs „Mythologische Landschaft Deutschland˝,
edition amalia 1999 ; Sophie Cassagnes-Brouquet „Vierges Noires˝
Editions du Rouergue, 2000)
Die Landschaftsgöttin mit ihren heiligen Symbolen und Zeichen lässt
sich manchmal in der unmittelbaren Nachbarschaft finden. Ich habe für
mich Heimatsagen wiederentdeckt und darin verborgene Botschaften aus
vorchristlichen und matriarchalen Zeiten gefunden.
In meiner Geburtsstadt Halle an der Saale gibt es viele Sagen von
besonderen und starken Frauen, von Wasserwesen und Nixen.....Das ist
kein Wunder, denn seinen Ursprung und seinen mittelalterlichen Reichtum
verdankt Halle dem Wasser. Genauer: salzigem Wasser, oder wie der Name
Halle’s sagt – dem Salz. Denn das hallesche Salz trat in Form von
Solequellen zutage und war deshalb sehr leicht zu gewinnen: das
Solewasser mußte nur sieden bzw. verkochen. Zurück blieb das Salz, das
deshalb heute noch Siedesalz heißt.
(Bild: Siedeanlagen.tiff, Bildunterschrift: Blick auf alte Salzsiedeanlagen)
So hatten die Menschen damals sprichwörtlich „Schwein˝, dass sie so
leicht den kostbaren Stoff gewinnen konnten. Wie das genau zuging ,
erzählt die Sage von der „Entdeckung der Salzquellen zu Halle˝.
Die Entdeckung der Salzquellen zu Halle
Vor undenklichen Zeiten hütete einmal ein Schweinehirt seine Herde an
der Stelle, wo später, etwa am heutigen Hallmarkt in Halle, die
Salzkoten der Halloren standen. Es herrschte sommerliche Hitze , und so
wälzte sich eine Sau, die Abkühlung suchte, in einer Wasserlache. Als
sie von der Sonne wieder trocken geworden war, glitzerten an ihren
Borsten lauter kleine Kristalle. Als das der Schweinehirt bemerkte,
leckte er verwundert daran und stellte fest, daß es sich dabei um Salz
handelte. Das meldete er den Bewohnern der Ansiedlung, und sie begannen
zu graben. Da sprudelte ihnen noch mehr Sole entgegen, und so führte
dieser Fund dazu, dass Halle durch das Salz allmählich zu Reichtum und
Wohlstand kam.
(Bild: Hallore mit Salzkorb)
Seit Kindertagen kenne ich diese Sage.Als ich sie vor kurzem wieder
las, war das wie ein Aha!-Effekt: Schimmert hier nicht mehr durch als
nur Salzentdeckung?
Die Schweine in der Sage werden zwar gehütet, sind also domestiziert
bzw. Haustiere. Trotzdem ist die erhitzte Sau nicht unrein oder
schmutzig, sondern die Überbringerin des Kulturstoffes Salz – und damit
ist sie Überbringerin von Glück, Segen und Reichtum – im Sinne eines
guten Lebens für alle!
Noch heute kennen wir das Symbol des „Glücksschweines˝; hat nicht auch die Gestalt des „Sparschweines˝ einen ähnlichen Sinn?
Aber ich musste auch an die uralte heilige Schweinegöttin denken, - wie
sie Jutta Voss in ihrem Buch „Das Schwarzmondtabu˝ beschrieb – an die
„verflucht heilige Wildsau˝, das mythische Symboltier des
Menstruationsblutes. Die Heiligkeit dieses Tieres ist uns ebenso
verloren gegangen wie uns die Heiligkeit unseres monatlichen
Frauenblutes ausgetrieben wurde!
Damit hat auch ein weiteres heimatliches Zeichen zu tun: das hallesche
Stadtwappen mit Mond und Sternen: es zeigt eine liegende Mondsichel!
Diese ist aber ein Zeichen der Schwarzmondmenstruationsphase und ist
damit Zeichen der kosmischen Unfruchtbarkeit im dritten Teil des Jahres –
d e r sakralen Phase im Matriarchat. So ist also die liegende
Mondsichel ein Symbol für die Göttin - ...und ist uns über den Bezug zu
Maria (!) im Stadtwappen erhalten geblieben.
(Bilder: Mariensiegel, Siegel, Stadtwappen)
In den Sagen wird deutlich, dass Salz und Sole anfangs von den Menschen
durchaus als Geschenk der Göttin, der Großen Mutter, also der Ahnfrau,
gesehen wurde. Es wurde entsprechend geehrt und geachtet. Die Sage vom
Gutjahrbrunnen erzählt davon:
Der Gutjahrbrunnen
Einer der hallischen Salzbrunnen – er ist noch heute in der
Oleariusstraße 9 zu sehen – heißt der Gutjahrbrunnen. An seiner Stelle
soll vor undenklichen Zeiten eine Wiese gewesen sein, auf der vom
Frühjahr bis zum Herbst die Hirten ihre Herden weideten.
Einem dieser Hirten träumte eines Nachts, er liege auf dieser Wiese,
und obgleich es Frühling war, sei alles um ihn herum verdorrt, die
Blätter seien von den Bäumen gefallen und Schnee sei niedergegangen. Nur
die Stelle, auf der er lag, sei verschont geblieben und habe weiter
gegrünt und geblüht.
Das träumte er auch in den beiden folgenden Nächten, nur dass ihm in
der dritten Nacht eine Stimme wie aus der Tiefe zurief: „Erlöse mich, so
will ich dich reich belohnen!˝ Und dazu strahlte ein Stern von
wunderbarer Helligkeit vom Himmel herab.
Da er sich nicht erklären konnte, was das zu bedeuten habe, ging er zu
den heidnischen Priestern auf den Kröllwitzer Ochsenberg und fragte sie
um Rat.
Sie sprachen, er solle zur Zeit des nächsten Vollmondes vor
Sonnenaufgang einen Wacholderzweig schneiden, wieder zu ihnen kommen,
diesen Zweig in das Blut des Opferstiers tauchen, um sich dadurch vor
bösen Geistern zu schützen, und dann warten, bis der Winter seinen
Einzug hielte. Es wird dann, wenn der erste Schnee gefallen sei, eine
Stelle auf der Wiese davon unbedeckt bleiben, drei Schuh lang und drei
Schuh breit.
In deren Mitte solle er ein Loch von drei Schuh Tiefe graben und das
Wacholderreis hineinlegen. Danach werde er einen großen Schatz finden.
Lange musste der Hirte warten, bis sich diese Verheißung erfüllte.
Schon war die Wintersonnenwende vorüber, als er in einer Nacht wiederum
nach der vorausgesagten Erscheinung Ausschau hielt.
Da bemerkte er den hellen Stern, den er in der dritten Traumnacht
gesehen hatte, und zugleich fielen aus dem wolkenlosen Himmel unzählige
kleine weiße Sternchen wie Kristalle auf die Wiese herab. Nur eine
Stelle blieb frei.Dorthin ging der Hirte und grub seinen Wacholderzweig
in die Erde.
Kaum hatte dieser die Erde berührt, stieg Dampf auf, Wasser begann zu
brodeln, und schließlich flammte ein Feuer empor. Dann erschien eine
wunderschöne Jungfrau mit einem goldenen Diadem im Haar. Sie sprach zu
ihm: „Ich war Jahrhunderte durch zwei grimme Riesen gefesselt und musste
ihnen dienen. Du hast mich erlöst, und zum Dank schenke ich dir diese
Quelle, die fortan hier sprudelt. Sie enthält etwas Kostbares, das dir
und deinen Nachkommen zu großem Reichtum verhilft, solange ihr treu und
ehrlich Nutzen daraus zieht. Sollte das aber nicht der Fall sein, wird
der Born versiegen.˝
Der Hirte war, von der Erscheinung geblendet, zu Boden gestürzt, und
als er sich wieder erhob, war sie verschwunden. An der Stelle aber, wo
die Nymphe gestanden hatte, sprudelte wirklich eine Quelle, und bald
erkannte der Hirte, dass sie Sole spendete.
Dies geschah aber in derselben Nacht, da zu Bethlehem Jesus Christus
geboren wurde, und weil die Quelle in diesem Jahr des Heils entstanden
war, nannte man sie bald den Gutjahrbrunnen.
Die Sage vom Gutjahrbrunnen ist wahrscheinlich nach der
Christianisierung der slawischen und sächsischen Siedlungsgebiete
entstanden, vermutlich um das alte Weltbild zu bewahren. Ab Mitte des 8.
Jahrhunderts u. Z. wurden diese Siedlungsgebiete mit
militärisch-strategischen Mitteln unterworfen. 806 wird Halle als
Grenzfeste (Saalekastell) in einer Chronik (des sogenannten) Karls des
Großen genannt. Dort werden die Slawen Sorben genannt; diese hatten
bereits das Salzsieden betrieben. Deshalb hieß der Brunnen der Sage auch
der Wendische Born (Wenden ist eine andere Bezeichnung für Slawen).
Welche Botschaft enthält aber die Sage im Zusammenhang mit unserem
Thema der Landschaftsmythologie? Sie entsteht für mich wie ein Puzzle
aus verschiedenen Facetten der Handlung:
- Der Hirt lebt natureingebunden, er nimmt seine Träume ernst und
folgt seiner inneren Stimme. Ist er ein matriarchaler Mann des alten
Kultes (dort wo er liegt „grünt˝ und blüht es)? - Später gibt es den
Begriff des „grünen Mannes˝...!
- Es gibt noch vorchristliche Kultstätten (vielleicht mit einem
Stierkult?), wo sich die Menschen Rat holen und wo die Rhythmen der
Natur und des Jahreslaufes geehrt wurden.
- Altes Wissen wird angewendet, die Elemente werden lebendig.
- Die gefesselte Quellgöttin wird durch die Geduld und
Verlässlichkeit des Hirten befreit; d.h. Gegenseitigkeit ist Not –
wendig, notwendend!
- Sie zeigt sich – befreit - als schenkende Ahnfrau, als Reichtumsspenderin, als Landschaftsgöttin.
- Sie schenkt SALZ als Solequelle. Salz ist eine Substanz, die als
Zeichen und Symbol für mütterlich-erneuerndes Blut angesehen wurde – als
magisches Zeichen von Blutsverwandtschaft, wo Menschen einander kein
Leid zufügen konnten. (Hier ist wieder die mütterliche
„Geburtsblutverwandtschaft˝ gemeint, denn zum biologischen Vater besteht
genetische, aber keine Blutsverwandtschaft.) Dieser Sinn ist auch
hinter dem traditionellen Volksbrauch, bei Hochzeiten oder beim
Gästeempfang Brot und Salz zu reichen, zu erkennen: damit geben die
Menschen zu erkennen, dass sie sich wie Verwandte oder Geschwister
ansehen und behandeln wollen. In dieses Bedeutungsfeld gehört auch das
Salzgeschenk der Halloren bei den Neujahrsempfängen an die jeweils
Regierenden – selbst wenn dies den Handelnden heute oft nicht mehr
bewusst ist. Wenn der Hirt und seine Nachkommen also „treu und ehrlich˝
Nutzen aus dem Geschenk der Göttin ziehen sollen, dann ist wohl dieser
verbindend-verbindliche Sinn gemeint ohne Gier und Profitdenken. (
Inzwischen
sind die meisten halleschen Salzquellen nicht mehr in Betrieb, letzte
Schließungen waren 1846 u. 1925 .......bis auf die Siedestätte in der
Saline, die heute Museum ist.)
(Bild: Salinemuseum)
- Der Bezug zur Christnacht erscheint zunächst wie ein christlicher
Mantel um die Botschaft aus der alten Religion. Aber die Geburtsnacht
Christi hat ja ebenfalls vorchristliche Wurzeln und wurde in frühen
Zeiten am 6. Januar gefeiert, heute noch der Epiphaniastag im
Kirchenjahr. Der 6. Januar war aber das alte Erscheinungsfest der Göttin
(in Italien kommt an diesem Tag Befana zu den Kindern, in Südtirol
zieht sie in Gestalt von drei Frauen durchs Dorf...). SIE erscheint also
hier mit ihrem
Stern!!!
Die alte Volksreligion ist auch in anderen halleschen Sagen, wie den Nixensagen und Frauensagen zu erkennen:
Die Teufelsküche bei Kröllwitz
Saaleabwärts hinter Kröllwitz befindet sich eine Felsengrotte, die von
den Fischern die Teufelsküche genannt wurde. Sie benutzen sie selbst
oft, um sich dort etwas für ihr leibliches Wohl zuzubereiten.
Aber einmal im Jahr, am weißen Sonntag, versammelten sich in dieser
Höhle die Nixe und Nixen aus der Saale und feierten darin ein großes
Fest. Die Fischer wussten das und setzten ihnen jedes mal, ehe es
begann, Kuchen und Wein in die Grotte. Und die Nixen segneten ihnen zum
Dank für das kommende Jahr ihren Fischfang.
(Variationserzählung:Die Fischer von Kröllwitz und die Nixen:
In den Porphyrfelsen der alten Wüstung Ersdorf bei Kröllwitz befindet
sich noch heute eine ziemlich große Höhle, das „Schwalchloch˝ oder die
„Nixenküche˝ genannt. Jedes Jahr, am Sonntag nach Ostern, stellten die
Kröllwitzer Fischer Wein und Kuchen hinein. Dann kamen die Nixen und
veranstalteten ein fröhliches Festmahl. Zum Dank dafür war den Fischern
das ganze Jahr hindurch ein reicher Fang gewiss.)
(Bild: Saaleberge)
Hier wird die Landschaftsahnin in Gestalt der Nixen mit Kuchen und Wein
geehrt; später sprach Man(n) von „Opfer-Handlung˝ ...! Das Gleiche tut
Rotkäppchen, wenn sie der Groß(en)mutter Kuchen und Wein bringt.....oder
die Frauen im Alten Testament der Bibel, die Kuchen zu Ehren der Göttin
backen.... Hier herrscht Fröhlichkeit und „gutes Leben˝ und bei den
Beteiligten ist Geben und Nehmen in der Balance, - und das ist ein
wichtiger Grundzug der matriarchalen Sozialordnung.
In der nächsten Sage geht es um die Namensgebung eines ehemaligen uralten Kultberges:
Der Name des Giebichensteins
Als der römische Feldherr Drusus kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung
sich anschickte, ganz Germanien zu unterwerfen und zur römischen Provinz
zu machen, drang er – wie erzählt wird – mit seinen Legionen auch bis
zur Saale vor. Am Fuße des Felsens, auf dem heute die Burgruine
Giebichenstein steht, richtete er ein Heerlager ein. Von dort aus wollte
er die umliegenden Gebiete erobern.
Eines Abends stand Drusus am Saaleufer und überlegte, wo er am
günstigsten eine Brücke über die Saale schlagen könnte. Da trat
plötzlich eine Frau von übermenschlicher Größe auf ihn zu, schaute ihn
mit zornigem Blick an und sprach: „Geh wec vom Stein, din Lewen is
mein, kümst newer heim!˝ Danach verschwand sie. Drusus war durch die
Gestalt und ihre Worte zu Tode erschreckt worden. Am anderen Morgen ließ
er das Lager abbrechen und ordnete den Rückzug an.
Von Todesahnung erfüllt, trieb er sein Ross mit den Sporen unaufhörlich
an. Schließlich strauchelte das abgehetzte Tier, Drusus stürzte herab
und brach sich den Schenkel. Als er nun so darnieder lag, kreisten Wölfe
um das Lager, Vorzeichen seines nahen Todes. Am dreißigsten Tag nach
dem Unfall starb der römische Feldherr. Von jenem Wort der
geheimnisvollen Frau „Geh wec(h) vom Stein˝ aber bekam der
Giebichenstein seinen Namen.
In dieser Sage steht die Landschaftsahnin mit göttlicher Macht über
Leben und Tod vor uns. Die patriarchale Bemächtigung und Besetzung ihrer
Erde, ihrer Landschaft mit den vielen malerischen Porphyrkuppen und
Höhen ist ihr ein Gräuel. Sie vertreibt den Feldherrn (der mir mit
seiner Angst durchaus Unrechtsbewusstsein auszudrücken scheint) und
seine Krieger, indem sie diese in ihre geschöpflichen Grenzen verweist.
Am Fuße des Giebichensteins wurden übrigens bei archäologischen
Untersuchungen römische Münzen, Waffen und eine Totenstätte gefunden.
(Bild: Giebichenstein02.tiff, Bildunterschrift: Burg Giebichenstein an der Saale)
In einer Variante dieser Sage ist die große weiße Frau, die Drusus
erscheint, die Göttin Frigga – allerdings als „Gattin˝ von Wotan, des
mächtigsten der germanischen Götter, dem der Berg als Heilige Stätte
geweiht war. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf schon vorchristliche
Patriachalisierung der heiligen Ahninstätte.
Gegenüber vom Giebichenstein auf der anderen Seite der Saale liegt der
Kröllwitzer Ochsenberg, auch ein alter Kultplatz. Hier spielt die Sage:
Der Schäfer von Kröllwitz
Auf dem Kröllwitzer Ochsenberg lagen einst viele große Steine, und deren Herkunft wird so erklärt:
Eines Morgens trieb ein Schäfer seine Herde auf den Berg. Dort trat
eine alte Frau an ihn heran und bat um ein Stück Brot. Das war die Frau
Holla. Sei es, dass der Schäfer missgelaunt war, weil er schlecht
geschlafen hatte, oder dass er im Übermut handelte, jedenfalls nahm er
seinen Hütestab, stach damit in eine Pfütze und spritzte der Alten
Schlamm ins Gesicht. „Da, nimm das, du alte hutzlige Gurke!˝ rief er.
Kaum hatte er das gesagt, war die Bittstellerin bei ihm und schlug ihm
mit ihrem Stecken ins Gesicht. Davon wurden er, seine ganze Herde und
die Hütehunde zur Strafe in Steine verwandelt.
Die Landschaftsahnin hat in dieser Sage sogar einen Namen – es ist Frau
Holla! Sie war die Große Göttin Mitteleuropas in matriarchalen Zeiten.
Was hier wie Strafe erscheint und benannt wird, drückt meines Erachtens
nur aus, was den Schäfer sowieso schon kennzeichnet: seines Herzens
Härte und seine (eigentlich patriarchaltypische) Verachtung von Alter
und Weiblichkeit..... Er war bereits innerlich versteinert und das
übertrug sich dann letztlich durch die Schmähung der Göttin auf die ihm
anvertraute Herde, die Hunde und ihn selbst – alle werden zu
unbeweglichen Steinen.
Dass die Herkunft großer Steine, noch dazu auf einem Kultplatz aus vorchristlicher Zeit, erklärt werden muss, führt
mich
zu weiteren Überlegungen. Ähnliche Sagen gibt es an vielen Orten aus
der Megalithkultur. Auch in Halle gibt es viele Funde und Stätten, die
die steinzeitliche Besiedlung und Bedeutung dieser Gegend belegen. Auf
dem Reilsberg, wo sich der heutige Bergzoo befindet, sind steinzeitliche
Bestattungen (ein gewaltiges Hügelgrab mit großen Steinplatten
ausgesetzt und überdeckt) nachgewiesen, die mindestens 4000 Jahre alt
sind. Auch in der nahegelegenen Dölauer Heide (!) – einem alten
Waldgebiet, finden sich eine Vielzahl von steinzeitlichen Bestattungen
und Siedlungsresten (ein ca. 20 ha. großes befestigtes Gebiet wies auch
Salzgewinnung nach....die ältesten Funde sind ca. 5500 Jahre alt.
So ist diese Steinsage auch ein Hinweis auf solche alten Kulturschichten.
(Bild: „Steinerne Jungfrau˝ bei Halle-Dölau)
Zuletzt möchte ich von einer Nixensage erzählen, die mich mit meiner
mütterlichen Familie und den AhnInnen aus der Hallorenzunft1) besonders
verbindet:
(Bild: Fähnrich und Hallorenbraut, beim Pfingstbier der Halloren)
Die schönen Töchter des Nixenkönigs
Am Fuße des Felsens Giebichenstein, tief unten in der Saale, wohnt in
einem durchsichtigem Kristallpalast der Nixenkönig. Er hat viele
anmutige Töchter, die sehr gut und hilfreich zu den Menschen sind. An
hellen Sommertagen, wenn die warmen Sonnenstrahlen durch das kühle
Wasser bis hinunter in den Palast schimmern, kommen sie herauf ans Ufer.
Dann singen sie mit lieblichen Stimmen ihre Lieder und kämmen dabei
anmutig ihr schönes, langes Haar.
Manchmal gehen sie nachts zu den Solebrunnen und tauchen ihre
Haarsträhnen in die Sole. Am Morgen dann glitzern die Salzkristalle im
Haar wie Diamanten.
Wenn bei den Menschen ein Kind geboren wird, stehen sie gern Pate.
Einem Mädchen setzen sie heimlich nachts eine zierlich geflochtene
Nelkenkrone auf das Köpfchen. Die Blumen aber verwandeln sich nach drei
Tagen in reines Gold. Den kleinen Knaben legen sie ebenso leise eine
Kette aus achtzehn Mohnköpfen gebunden um den Hals, die nach drei Tagen
zu puren Silber wird.
Wenn Kinder in der Saale baden, lehren die Nixen ihnen das Schwimmen,
und wenn ein Kind ins Wasser fällt, tragen sie es sanft zum Ufer zurück.
Kommt ein Mensch dazu, wenn die Nixen gerade auf den Saalewiesen sitzen
und ihre eigenen Kinder wiegen, dann fordern sie ihn oft auf, ihnen zu
helfen. Tut er das, schenken sie ihm dafür zum Dank einen goldenen
Haselstecken.
Eine schöne Sage! Oder zu romantisch? Vielleicht eine Projektion der
Sagensammler zurück in bessere, aber verlorene Zeiten?! Für mich steckt
mehr drin! Zunächst ganz persönliches: die Nelkenkrone – das
Patingeschenk der Nixen an die
Mädchen,
gibt es ganz real bis heute. Sie ist die Brautkrone der Hallorenfrauen
und gehört zur Tracht der Hallorenbraut. Meine Großmutter war so eine
Hallorenbraut, ich habe sie dafür als Kind sehr bewundert... Aber
diese Krone hat auch tiefen Symbolwert: sie ist aus Gewürznelken (ein
Heilmittel), die vergoldet werden, gefertigt.Das geschmückte Rund – mit
rotem Band umschlungen, drückt für mich die Ganzheit aus, aus der das
Leben kommt. Und das ist nun mal das weibliche Geschlecht, das den
Lebensreichtum (Symbol Gold), die nächste Generation, hervorbringt. Die
Hallorenbräute tragen deshalb gleichsam die „Krone des Lebens˝...
(Bild: Brautkrone der Hallorin)
Auch die Mohnköpfe, die zu Silber werden, gibt es ganz real. Die
Hallorenmänner tragen als Festtracht unter ihrem Rock eine Brokatweste,
die mit 18 Silberknöpfen geschlossen wird, dabei hat jeder Knopf einen
eigenen Namen. Drückt das Silber und die Form der Mohnfruchtkapsel
symbolisch nicht die Beziehung zu Mond und damit zu Ruhe, zu Nacht, zu
nährender heilender Weiblichkeit aus? Die zu schützen, zu unterstützen,
zu ehren ist?!
.....Ich denke, die Nixenpatinnen der Sage wollten die Jungen zu dieser
Lebensaufgabe führen und sie noch als Erwachsene mit dem 18-maligen
Knöpfen immer wieder daran erinnern!....Ob mein Urgroßvater solche
Gedanken hatte, weiß ich nicht. Aber seine Tracht hat er stets stolz
getragen.
(Bild: Silberknöpfe an der Hallorentracht)
Noch ein Wort zum Haselstecken: in der Baumsymbolik sah man im
Haselstrauch die Kraft der Verjüngung und der Wiedergeburt ebenso
verkörpert wie die Kraft der Wunscherfüllung... Die Nixen der Sage sind
also Segenbringerinnen, Schutzgeberinnen und Hüterinnen der Kinder. Zu
solchem Verhalten und Tun möchten sie auch die Menschen anregen und
einladen.
Vielleicht haben die Salzsieder – trotz ihrer späteren sehr
patriarchalen Zunftordnung2) – doch von Nixen gelernt. Denn die Halloren
haben sich immer für das Gemeinwohl eingesetzt und sich dafür in die
Pflicht nehmen lassen:
Sie waren hervorragende Schwimmer und retteten daher manche Leute „aus
Wassersnoth˝. Oder sie halfen bei „Feuersgefahr˝. Bis zur Einführung
der hauptamtlichen Feuerwehr in der Zeit Friedrich des Zweiten von
Preußen waren die Halloren für den Löschdienst in Halle verantwortlich.
Später waren sie als Schwimmmeister tätig, bei ihnen lernten auch die
armen Kinder das Schwimmen. Seit den Pestzeiten tragen die Halloren auch
die Verstorbenen zu Grabe – bis heute.
So klingen aus diesen Sagen Botschaften einstiger matriarchaler
Kulturformen. Wenn wir sie hören, können sie uns heute
gesellschaftserneuernde Impulse geben, - zum Beispiel die Vision, uns
dem GUTEN LEBEN FÜR ALLE zu verpflichten. Wenn Visionen in uns leben,
werden sie auch uns und die Gesellschaft verändern!
So wie ich, wie wir es in der Zeit um 1989 erlebten, in Dresden, Leipzig, Mittweida, Halle und an vielen, vielen anderen Orten!
Weitere Literatur:
Nixenmärchen und Sagen um die Saale, fliegenkopfverlag Halle 1991, (nacherzählt von Karin Schubert)
Der Saalaffe – Sagen aus Halle und Umgebung, erzählt von Manfred Lemmer,VEB Postreiter-Verlag Halle 1990
Halle 806 bis 1806,von Werner Freitag,Mitteldeutscher Verlag 2006
Kulturgeschichte der Halleschen Salinen,von Dr. Johannes Mager,1995
Die Dölauer Heide – Waldidylle in Großstadtnähe,Autorenkollektiv, Magistrat der Stadt Halle (1991)
Halloren-Geschichten, im Dialekt erzählt von Robert Moritz,1997