Region 7
Hessisches Bergland, Rhön, Odenwald


Das Steinkammergrab von Züschen
Eine Grabanlage unserer Ahninnen in der Megalithkultur
von Barbara Obermüller


Der Text und die Abbildungen stammen aus dem Buch
»Die weibliche Seite der Ur- und Frühgeschichte - mit besonderem Blick auf Hessen«
von Barbara Obermüller, S. 248-251
mit freundlicher Genehmigung des Christel Göttert Verlags


Das Steinkammergrab von Züschen

Zwischen ca. 4500 und 2500 v. u. Z. entstand die Kultur der Steinkistengräber aus mächtigen Steinplatten gesetzte und überdeckte, rechteckige Kammern, die vornehmlich in Nordhessen gefunden wurden. Sie gehören in die vor-indoeuropäische Megalithkultur mit einer mutterrechtlichen Gesellschaftsform und einer matriarchalen Mythologie. Derartige Grabanlagen waren Orte der Ahninnen und Ahnen, wo sich die Lebenden mit den Verstorbenen verbunden fühlten. (64)

Vor ca. 5000 Jahren ritzten KünstlerInnen in der Nähe der heutigen Ortschaft Züschen mit einem spitzen Steinwerkzeug – oder vielleicht bereits mit einem Gerät aus Kupfer oder Bronze – senkrechte Linien mit zarten, nach oben geöffneten Halbbögen in die Wände. Da diese Zeichen an manchen Stellen paarweise mit zwei betonten Eckpunkten oder durch ein Joch mit Deichsel und zweirädrigem Wagen verbunden sind, können sie als vor den Pflug gespannte Rinder gedeutet werden. Diese Zeichen, die in ähnlicher Form auch in anderen Regionen Europas gefunden wurden, liefern den Beweis, dass die Menschen in jener Zeit auch in Hessen ihre Felder mit dem Pflug bearbeiteten und dass Rinder auch ins Joch gespannt wurden. Diese schwere Arbeit haben wohl auch Frauen geleistet (siehe Kap. Veränderung der Lebensweise).

Das Grab von Züschen bei Fritzlar (Nordhessen) mit seinen Bildzeichen an den Grabwänden und auf einem in der Grabkammer aufgefundenen, kleinen, losen Stein gehört zu den wichtigsten frühgeschichtlichen Bodendenkmälern Mitteleuropas. Die eingravierten Darstellungen sind einzigartig für eine Megalith-Grabanlage in Deutschland.

Die in den Boden eingelassene Grabkammer ist 20 m lang und 3,50 m breit und aus großen Sandsteinplatten gebaut. Die südwestliche Abschlussplatte trennt einen kleinen offenen

Vorraum von der eigentlichen Grabkammer. Sie hat in der Mitte eine kreisrunde Öffnung von 50 cm Durchmesser, die als Eingang zu klein erscheint. Trotzdem wird angenommen, dass durch diese Öffnung bestattet wurde. Vielleicht diente sie als Verbindung zwischen Lebenden und Toten. Daher wird die Öffnung auch als »Seelenloch« bezeichnet.

In Irland, Schottland, Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern wurden Steine mit einem Loch lange Zeit für heilig gehalten, die Menschen glaubten an ihre Wunderkraft. Kranke krochen durch das Loch, um gestärkt und von Krankheiten geheilt zu werden. Es war üblich, schwache und kränkliche Kinder in der Hoffnung auf Gesundung mit dem Kopf voran durch solche Öffnungen zu schieben. Einige dieser Steine wurden in den Krypten christlicher Kirchen aufgestellt und es wurden ihnen noch lange Wunderkräfte nachgesagt. Die Eingänge von Höhlen, z. B. in Frankreich, wurden von Menschen der Eiszeit als Vulva dargestellt. Auch die Eingänge zu Megalithgräbern erinnern an eine Vulva. Wie auch bei dem Grab von Züschen ist der Eingang an beiden Seiten durch große Steine begrenzt, die einen Vorhof bilden. Möglicherweise war dies eine Nachahmung des engen Zugangs zum Mutterschoß. Das Kriechen durch die Öffnung eines Steins ist dem engen und mühsamen Weg des Kindes durch den Geburtskanal vergleichbar, als Initiationsritus, der ein symbolisches Sterben und Wiedergeborenwerden ausdrückt. (65)


Die Eulengöttin

Am unteren rechten Rand eines Wandsteins der Grabkammer von Züschen ist ein eulenartiges Oval mit der Darstellung eines Gesichts zu erkennen. Ähnliche Abbildungen finden sich in französischen und spanischen Großsteingräbern, sie werden »Dolmengöttin«, englisch »Eye Goddess«, Augengöttin genannt. (66) Die Göttin in Gestalt einer Eule ist ein Motiv, das uns von der Jungstein- bis zur Bronzezeit auf Ritzbildern, auf Urnen, Stelen und als Skulptur begegnet. Gisela Graichen schreibt dazu: »Die abstrakten Darstellungen von Rindern, Rindergespannen der ›Dolmengöttin‹ finden Parallelen zu jüngeren europäischen Felsritzungen. Sie spiegeln die religiösen Vorstellungen einer frühen bäuerlichen Kultur: die Sorge um Fruchtbarkeit und Wachstum in Verbindung mit einer im Bereich der Megalithkulturen mehrfach bezeugten weiblichen Gottheit.« (67) In der griechischen Kunst lebte die Eule in den Darstellungen der Göttin Athene weiter, wie zahlreiche griechische Münzen bis hin zum Euro zeigen.

Im Inneren des Grabes von Züschen fanden sich viele menschliche Skelettreste von mindestens 27 Toten. Da auch der darüberliegende Schutt mit vielen menschlichen Knochen durchsetzt war, muss die Zahl der Toten höher sein.

Als Beigaben fanden sich Keramik, einige Stein- und Knochenwerkzeuge, Tierknochen, vor allem vom Rind. Eine gut erhaltene Flasche mit engem Hals wird der Trichterbecherkultur zugerechnet, die sich als Ackerbaugesellschaft von Mitte des 5. bis Mitte des 3. Jahrtausends in Nordeuropa ausbreitete.

Weitere Großgräber, die bisher in Hessen gefunden wurden, sind das »Lautariusgrab« in Gudensberg (Nordhessen), das Steinkammergrab von Altendorf (Naumburg, Landkreis Kassel) – dessen Türlochstein heute im Regionalmuseum Wolfhager Land zu sehen ist, die Galeriegräber von Calden (Landkreis Kassel) – hier wurden in einem Grab zwei Tontrommeln gefunden (siehe Kap.: Die Trommel der Priesterin), Lohra (Nordhessen) – mit erstaunlich vielen Keramikbeigaben, Niedertiefenbach (Landkreis Limburg-Weilburg), Niederzeuzheim (Hadamar), Willingshausen (Schwalm-Eder-Kreis) und das zerstörte Galeriegrab in Gießen (Mittelhessen) – wo nur ein Türlochstein gefunden wurde, sowie das erst ab 1998 bis 2003 wieder rekonstruierte Großsteingrab »Heiliger Stein« bei Lich-Muschenheim in der Nähe von Gießen.

Barbara Obermüller


Der Text und die Abbildungen stammen aus dem Buch
»Die weibliche Seite der Ur- und Frühgeschichte - mit besonderem Blick auf Hessen«
von Barbara Obermüller, S. 248-251
mit freundlicher Genehmigung des Christel Göttert Verlags


Fußnoten:

64Vgl. Göttner-Abendroth, Derungs 1999, S. 86

65Vgl. Gimbutas 1995, S. 158

66Vgl. Jockenhövel 1990, S. 169

67Graichen 1988, S. 215


Verwendete Literatur:

Gimbutas, Marija: Die Sprache der Göttin, Frankfurt am Main 1995

Göttner-Abendroth, Heide / Derungs, Kurt: Mythologische Landschaft Deutschland, Grenchen/Schweiz 1999

Graichen, Gisela: Das Kultplatzbuch. Ein Führer zu alten Opferplätzen, Heiligtümern und Kultstätten in Deutschland 1988

Jockenhövel, Albrecht: »Die Jungsteinzeit«, »Die Bronzezeit«, »Eisenzeit«, in: Die Vorgeschichte Hessens, hg. von Fritz-Rudolf Herrmann u. dems., Stuttgart 1990