Region 7
Hessisches Bergland, Rhön, Odenwald

Wildfrauensteine
eindruckvolle Felsformationen in Hessen
von Barbara Obermüller


Der Text und die Abbildungen stammen aus dem Buch
»Die weibliche Seite der Ur- und Frühgeschichte - mit besonderem Blick auf Hessen«
von Barbara Obermüller, S. 339-344
mit freundlicher Genehmigung des Christel Göttert Verlags
weitere Fotos: Daniela Parr


An verschiedenen Orten Hessens gibt es eindrucksvolle Felsformationen, die »Wildweibchensteine«, »Wildfrausteine« oder »Wildfrauhaus« genannt werden. So z. B. der »wilde Fraustein« im Wald zwischen Grünberg und Laubach (Kreis Gießen), wo eine wilde Frau und ein wilder Mann gewohnt haben sollen.(8) Wilde Leute gibt es auch im Bernhardswald bei Schlüchtern am linken Kinzigufer, wo die gewaltigen Steinmassen »Wilde Häuser« genannt werden.(9) Im Odenwald sollen der Sage nach kleine Leute gehaust haben und die wilden Frauen sollen an Göttinnen erinnern.

In ihrem Buch »Odenwälder Sagenschatz« bezieht sich die Autorin Erika Pöschl(10) auf Sagen und Mythen, wo die wilden Leute als mit Hausgeistern verwandte Zwerge vorkommen. Die wilden Leute wohnen in Höhlen, Felsblöcken oder Steinhäusern und sind manchmal klein und behaart. Wilde Männer, die einzeln auftreten, haben oft Ähn1ichkeit mit Riesen. Die wilden Weibchen sind meist freundlich, rächen sich aber an Leuten, die sie verhöhnen oder ärgern. Sie können sehr schön sein, mit hellen Haaren. Sie lieben Musik und kennen sich mit dem Heilen von Krankheiten aus. Im Winter kommen sie zu den Spinnstuben und stricken und spinnen, um zwölf Uhr müssen sie fort, kommen nachts zurück und vollenden die angefangenen Arbeiten. Sie helfen bei der täglichen Arbeit, sagen das Wetter voraus und wissen mit Pflanzen Bescheid. Sie nehmen gerne Essen an. Die wilde Frau rettet manchmal Kinder.


Wildweibchenstein Reichelsheim

Die Stadt Reichelsheim mit ihren Ortsteilen liegt in der Mitte des Naturparks Odenwald. Nahe der Ruine Rodenstein in Reichelsheim-Laudenau, unweit des Gasthauses »Zur Freiheit«, liegt eine Felsformation an einem Abhang, die als Wildweibchenstein bekannt ist.

Die wilden Frauen saßen oft vor den Steinen und kämmten sich ihr wildes Haar. Bei den Bewohnerinnen in der Umgebung waren sie gut bekannt, die wilden Frauen halfen allen guten und fleißigen Menschen, zeigten ihnen Pflanzen mit besonderen Heilkräften und brachten den Bräuten zur Hochzeit Geschenke.

Des Öfteren wagten sie sich bis an den Ortsrand Laudenaus und erbaten sich Brot oder andere Dinge. Diejenigen die freigiebig zu ihnen waren, fanden anderntags zur Belohnung silberne Löffel in ihrer Schublade. Es gibt auch eine Sage von zwei wilden Frauen, die hier lebten und den Alten und Kranken geholfen haben sollen. Als eine der Frauen gefangen wurde, soll ihr die andere nachgerufen haben: »Wenn die Bauern wüssten, zu was die wilden weißen Haiden und die wilden weißen Selben gut sind, dann könnten sie mit silbernen Karsten hacken!«(11)

Auch in Zusammenhang mit der nahe gelegenen Burg Rodenstein gibt es eine Geschichte: Rudolf von Rodenstein soll einmal eine Liebschaft mit einer der Frauen gehabt haben, wobei ein Knabe entstand. Rudolf hat sich danach nicht mehr dort blicken lassen. Als er eines Tages an jenem Felsen zu Rast niedersaß und einschlief, fiel ihm sein Hut herunter. Da wurde er von einer Stimme geweckt, die sagte: »Willst du wohl deinem Vater den Hut aufheben!« - worauf ein blonder Knabe ihm den Hut reichte. Da erkannte er seinen Sohn und nahm Mutter und Sohn reumütig bei sich auf.(12)


Wildfrauhaus Lützelbach

Lützelbach im Odenwald wurde erstmals 1160 erwähnt. Der Ort liegt in waldreicher Umgebung. Ein Wanderweg führt vom Ortsrand zu der Felsenformation, die Wildfrauhaus genannt wird. Hier sollen einst Frauen in der Verbannung gelebt haben. Von der Dorfgemeinschaft gemieden, führten sie ein hartes Leben.

Um das Wildfrauhaus geht ebenfalls die Sage von den wilden Selben, von denen niemand wissen sollte, wozu sie gut sind, nur sind es hier eine Frau und ein Mann, die das Geheimnis teilen, und gefangen genommen wird der Mann.(13)

Ein Teil des Felsens wird »Großherzog Ernst Ludwig-Stein« genannt.



Am Wildfrauenstein in Groß-Bieberau

Auf der Flurkarte von Groß-Bieberau von 1836 und auf dem Messtischblatt Neunkirchen ist der Name »AmWildfrauenstein« eingetragen. Nach der Pfarrchronik von 1855 soll dort ein schwerer, rund und glatt behauener Stein gelegen haben. Auf der Oberseite befanden sich drei (14) Löcher und der Eindruck einer großen und einer kleinen menschlichen Fußsohle. 1821 wurde der Stein auf einer Pferdeschleife ins Dorf geschafft, ging später verloren und ist nicht mehr zu finden.(15)


Die Wippchensteine in der Schwalm

Die Wippchensteine liegen in der Schwalm auf einer Anhöhe zwischen den Dörfern Merzhausen und Holzburg. Dieser Kultplatz war eine Opferstätte, es wurden sehr alte Blutspuren gefunden. Der Name der Felssteine kommt von »Wippfingersteine«, deshalb hat hier früher wohl mindestens ein Wippstein existiert, also ein obenaufliegender Stein, der bei Berührung anfängt zu schwingen, aber nicht herunterfällt. Eine Sage beschreibt »Weiße oder Weise Frauen«, die an den Wippchensteinen dem Germanengott Thor dienten. Und angeblich erschreckt hier der »Wilde Reiter« nächtliche Wanderer zu Tode.


Die Wilde Frau als Göttin Holle oder Epona

In Oberhessen(16) im Königswald auf dem Hohenberg bei Ranstadt-Dauernheim (Wetteraukreis) gibt es versteckt im Wald eine Steinsetzung, die »Wildfrauengestühl« genannt wird. Auf das Jahr 1697 geht eine Erzählung von »drei weißen Leuten« zurück, die im Königswald von Dauernheim gelebt haben sollen, und Jacob Grimm berichtet vom Wildfrauengestühl, dass sich dort »drei wilde Leute« niedergelassen hätten »als die Steine noch weich waren«. Bis etwa Mitte des Jahrhunderts galt eine oberhalb des Wildfrauengestühls gelegene Lichtung als Fest- und Tanzplatz. Am Himmelfahrtstag wanderten die BewohnerInnen der drei umliegenden Dörfer dorthin, sammelten Kräuter, tanzten und feierten. Die drei steinernen Sitze gelten auch als möglicher Sonnenbeobachtungspunkt, als germanische Kultstelle und sollen später eine germanische Gerichtsstätte gewesen sein.(17) Dieser Ort steht aber auch in Verbindung mit den Sagen um Frau Holle, die in der germanischen Mythologie »Hulda« genannt wird, aber als Große Göttin der matriarchalen Epoche Europas bekannt ist. Möglicherweise weisen alle Steinformationen der »Wilden Frau« auf diese Göttin zurück.(18)

Für den Vogelsberg hat der Heimatforscher Pfarrer Zinn das »Wildfrauenhaus« bei Eschenrod, einem Stadtteil von Schotten, und bei Wohnfeld, einem Ortsteil der Gemeinde Ulrichstein, oder das »Wilde Haus« am Steigersberg bei Dirlammen, einem Ortsteil der Gemeinde Lautertal, als heilige Orte der Göttin Holle interpretiert.(19) Auch bei Busenborn, einem Ortsteil von Schotten, gibt es ein Wildfrauhaus. Und zwischen Birstein am südlichen Fuß des Vogelsberges und Neuenschmitten wird eine Waldhöhle »Am wilden Weibsbild« genannt.

In Oberhessen ist die Bezeichnung »Wilde Frau« auch mit Menhiren, mit einzelnen Felsen und ganzen Felswänden verknüpft. Der Heimatforscher Max Söllner ist in dieser Region auf die Suche gegangen und verbindet die Wilde Frau mit einer sehr frühen und heute nicht mehr bewussten Erinnerung an »eine gütige Göttin der Jungsteinzeit, die im Mittelmeergebiet in West- und Mitteleuropa weithin sowohl in einer als auch in dreifacher Gestalt verehrt worden ist, wie denn die Zahl Drei schon in vorchristlicher Zeit als heilig galt.«(20) Söllner sieht in der Göttin Epona und in der heiligen Zahl Drei in der keltischen Mythologie eine Fortsetzung der sehr alten Verehrung einer dreifaltigen Göttin.


Wildfrausteine als Rückzugsgebiete und Versteck

Die Forscherin und Autorin Heide Göttner-Abendroth weist daraufhin, dass das weitverbreitete Thema der »wilden Leute« sehr alt ist und auf die Zerstörung der matriarchalen und friedlichen Kultur Mitteleuropas durch das hereinbrechende keltische und germanische Kriegerpatriarchat zurückgeht. Es zeigt ihrer Meinung nach das vorindogermanische Volk in seinen späteren Rückzugsgebieten und Verstecken in dichten Wäldern, unterirdischen Höhlen und Gängen. Durch die Umdeutung dieses verborgenen Volkes in Naturgeister oder Feen wurde die Realität der Vernichtung einer Kultur verleugnet und in den Bereich der Fiktion verwiesen.(21)

Es ist gut vorstellbar, dass die Wildfrausteine in der Zeit der fast vierhundertjährigen Hexenverfolgung im Mittelalter und der frühen Neuzeit Menschen als Versteck gedient haben. Auch im Odenwald wurden Hexen angeklagt und ermordet. Häufig wurde versucht, mit der Vernichtung vieler Akten bald nach der Massentötung die Erinnerung daran auszulöschen. Deshalb schwanken auch die Schätzungen über die Zahl der Opfer in Deutschland. In der Literatur entstand das Bild der bösen, alten Märchenhexe und die Hexen wurden zur Karnevalsbelustigung oder sogar zum Werbegag in der Figur der Kräuterhexe.(22) Wie viele Sagen und Märchen zeigen, entsprechen die Wildweibchen im Odenwald den Wildfrauen, Wald-, Erd- oder Buschweiblein und den Saligen Frauen in anderen Regionen Deutschlands, in Österreich oder in der Schweiz. Sie gehören einer sehr alten Überlieferung an, werden als mythische Wesen mit magischen Fähigkeiten dargestellt, die in menschlicher, d. h. meist weiblicher Gestalt erscheinen, sich aber ebenso in ein Tier, in Nebelschwaden oder Wassertropfen verwandeln können. Damit sind sie ein Symbol für die alten Vorstellungen der göttlichen Lebenskraft. Sie entsprechen in vieler Hinsicht dem ursprünglichen Bild der frei umherschweifenden Göttin und werden als Hüterinnen der Tiere und der Wälder beschrieben.(23)

Barbara Obermüller

Der Text und die Abbildungen stammen aus dem Buch
»Die weibliche Seite der Ur- und Frühgeschichte - mit besonderem Blick auf Hessen«
von Barbara Obermüller, S. 339-344
mit freundlicher Genehmigung des Christel Göttert Verlags


Fußnoten:

8 Vgl. »Der wilde Fraustein«, in: Bindewald 1980, S. 92
9 Vgl. Diederich, Hinze 1985, S. 232
10 Vgl. Pöschl 1989, S. 15
11 »Das Rätsel um den seltsamen Spruch ist leider bis heute nicht gelöst, so dass die Bauern in Laudenau noch immer Karsten (Hacken) aus Eisen benutzen müssen!« (http://www.zurfreiheit.de/wildweiber.htm)
12 Vgl. http://www.zurfreiheit.de/wildweiber.htm
13 Vgl. http://jo.jimdo.com/ausflugstipps-f%C3%BCr-den-odenwald-seite-i/ausflugstipps-seite-vi/
14 Die Zahl drei ist symbolhaft, von alters her kommt ihr große Bedeutung zu. Sie begegnet uns im Volksbrauch, in Märchen. Drei gute Gaben legt eine Fee in die Wiege und drei Wünsche hat ein Glückskind frei. Der Zopf besteht aus drei Strängen und wird zu einer Einheit geflochten. Das Göttliche ist dreifach, stets sind drei Frauen auf den Matronensteinen abgebildet und die dreigestaltige Göttin der Jungsteinzeit manifestiert sich in den drei Farben Weiß, Schwarz, die auch am Anfang des Märchens vom Schneewittchen stehen. Auch das Christentum basiert auf der Dreifaltigkeit.
15 Vgl. Pöschl 1989, S. 159
16 Oberhessen bezeichnet ein Gebiet im mittleren Hessen. Heute zählen das Lahn-Dill-Bergland, der Hohe Vogelsberg die Wetterau und die Stadtregionen um Marburg und Gießen dazu.
17 Vgl. Strecker 2008, S. 95 f
18 Vgl. Kratzmann 2006, S. 50
19 Vgl. Zinn 1926, S. 7a
20 Vgl. Söllner 1981, S. 9
21 Vgl. Göttner-Abendroth 2005, S. 159; in diesem Buch beschreibt sie auch diese Verdrängung für das Alpengebiet.
22 Die Bildhauerin Eva-Gesine Wegner hat das erste Ehrenmal für die als »Hexen« getöteten Frauen geschaffen. In ihrem Buch schreibt sie auch über die Kräuterhexe als Werbegag für Zahnpasta und darüber, wie sich Frauen bundesweit dagegen wehrten. Siehe Wegner, Eva-Gesine (2003): zwischen den welten. Orte der ›Hexen‹-Verfolgung als Bildhauerin neu sehen. Rüsselsheim
23 Vgl. Kutter 1999, S. 226 f


Verwendete Literatur:

Bindewald, Theodor: Oberhessisches Sagenbuch, Frankfurt am Main 1980 (1873)

Diederichs, Ulf / Hinze, Christa (Hg.Innen): Hessische Sagen. Von der Schwalm und der Rhön bis zum Odenwald, Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt und die Freie Stadt Frankfurt, 1985

Göttner-Abendroth, Heide: Frau Holle – das Feenvolk der Dolomiten, Königstein/Taunus 2005

Kratzmann, Horst: Hessen in der Antike. Die Geschichte der Kelten und der Chatten, Groß-Gerau 2006

Pöschl, Erika: Odenwälder Sagenschatz, Ober-Ramstadt 1989

Söllner, Max: Wanderungen zu ur- und frühgeschichtlichen Stätten Oberhessens, Gießen 1981

Strecker, Michael: Auf den Spuren der Wilden Frau von Dauernheim, Groß-Gerau 2008

Zinn, H.: Altheilige Orte und Spuren altheidnischer Verehrung der Göttin Holle oder Hulle im oberen Vogelsberge. Ein Beitrag zur Siedlungsgeschichte unserer Heimat, Pfungstadt 1926