Region 6
Niederrhein, Eifel, Hunsrück, Pfalz und Saarland

Der Strom der Frau Ley
von Heide Göttner-Abendroth

Ausschnitt aus dem Buch „Matriarchale Landschaftsmythologie“, Kohlhammer- Verlag,
Seite 99-105


Matriarchale Sagen und Plätze am Rhein von der Schweiz bis Holland

Der Rhein umfasst, betrachtet man ihn in seiner ganzen Länge, ein großes Gebiet. Es reicht von den Alpen bis zur Nordsee, und der Strom fließt durch drei Länder: die Schweiz, Deutschland und Holland. Aus diesem gesamten Gebiet werden hier Landschaften und Orte vorgestellt, deren Sagen sehr alte Symbolik und Muster aufweisen. Sie stammen aus der Besiedlungsepoche der Jungsteinzeit, die in weiträumigen Kulturwanderungen ab 5000 vor u.Z. den ersten Ackerbau und die erste Sesshaftigkeit entlang dieses Stromes brachte. Verschiedene jungsteinzeitliche Kulturzonen breiteten sich im Mittelmeer durch Völker mit Booten und Schiffen aus, wobei die Seefahrer überwiegend den Küsten folgten. Andere Kulturzonen, besonders die Kultur der Megalithbauer, erstreckten sich von Spanien und Portugal entlang der Küsten des Atlantik und der Nordsee nach Frankreich, England, Irland und über Dänemark bis in die Ostsee hinein. So finden sich Megalithbauten ebenfalls entlang der deutschen Nordsee- und Ostseeküste.[1]

Die Mündungen großer Flüsse geleiteten sie ins Innere Europas, wie die Donaumündung vom Schwarzen Meer, die Rhônemündung vom Mittelmeer, so auch die Rheinmündung von der Nordsee, und sie siedelten rechts und links des Stromes. Ebenso gelangten die frühen Ackerbäuerinnen und Ackerbauer über Süddeutschland und dessen Flüsse: Donau, Altmühl, Main, zum mittleren Rhein und breiteten sich auch von hier den Strom entlang aus.[2] Ihr Weg führte sie rheinaufwärts bis zu den großen Seen im Voralpenland und im Alpenraum, die mit ihrem milden Klima und fruchtbaren Ufern gute Lebensbedingungen boten. Deshalb lassen sich entlang des Rheins die archäologischen Zeugnisse, die Kultplätze und die archaischen Mythenmotive aus jener Epoche reichlich finden.

Unsere Reise geht umgekehrt wie die Wanderung der matriarchalen Siedler und Siedlerinnen, sie folgt der Bewegung des Stromes von seiner Quelle bis zur Mündung. Jeder Gegend wird dabei ein Motiv zugeordnet, welches am stärksten in den lokalen Funden oder Sagen hervortritt und landschaftsmythologisch von Bedeutung ist.

Der Alpenrhein: der Drache

Gleich zu Anfang ein Zitat:
„Denn soviel er (der Rheinvater) am oberen Strom an guten Sorgen hatte, nicht weniger Unvernunft bringen die Rheintöchter mit ihren losen Gewohnheiten zur Fastenzeit und oftmals auch mitten im Herbst, wenn .... sie sich zu den Menschen halten, um ihnen wilde Umzüge einzugeben oder gar die Herrschaft der Frauen zu verkünden. Die Wasserjungfern sind es auch, die aus Übermut jene Drachen und Molche sichtbar werden lassen, die von den hohen Bergen der Schweiz bis zur Mündung des Rheins fliegen und oft Unheil bringen.“ [3]

Das sind in der Tat merkwürdige Rheintöchter: Sie haben „lose Gewohnheiten“, sind „unvernünftig“ und „übermütig“, denn sie lieben offenbar heidnische Rituale in freier Natur zur Fastnacht und um Halloween. Obendrein sind sie mit den Drachen verbündet und wollen gar die „Herrschaft der Frauen“ verkünden. Kein Wunder, dass dies dem alten Patriarchen, der sich „Rheinvater“ nennt, Sorge bereitet! Sind diese weiblichen Wesen überhaupt seine „Töchter“, oder bedeuten sie etwas ganz anderes? Vielleicht hat er sich als oberster „Vater“ nur über sie gesetzt, wie auch der griechische Zeus als „Vatergott“ sich über alle anderen Göttinnen setzte, die schon vor ihm da waren und nun seine Gattin, Geliebten und Töchter sein mussten.[4] Offenbar sind diese sogenannten Rheintöchter nicht zu bändigen, und der Rheinvater fürchtet um seine Herrschaft, weshalb er den Rheintöchtern andichtet, sie wollten diese an sich reißen – ein klassisch patriarchales Motiv. Seine Furcht gründet wohl darin, dass die Rheintöchter, bevor er seine Herrschaft errichtete, eine andere Kultur besaßen, die nichts mit Herrschen zu tun hatte. Sie zeigte eine wohlausgewogene Balance zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen und zwischen Mensch und Natur. Ob dieses Einvernehmen zwischen Mensch und Natur vielleicht durch die „Drachen und Molche“ ausgedrückt wird, die den Rheintöchtern offenbar sehr zugetan sind, so dass sie auf deren Geheiß durch die Lüfte fliegen? Diese große Macht besitzen die Rheintöchter noch immer, und dies dünkt dem Rheinvater ein „Unheil“. Wer sind diese Drachen überhaupt? Es soll sie entlangdes ganzenRheins gegeben haben, und sie kommen „von den hohen Bergen der Schweiz“. Schauen wir also einmal in der Schweiz nach!

Der Rhein entspringt in den Schweizer Alpen als Vorderrhein und Hinterrhein. Beide Flüsse vereinigen sich bei Reichenau/Tamins in Graubünden, und nun strömt der junge Rhein als türkisfarbener Alpenfluss durchs Rheintal zum Bodensee (Karte 1). Am Vorderrhein, kurz bevor er durch die wilde Rheinschlucht des Flimser Bergsturzes fließt, steht beim Ort Falera eine bemerkenswerte Megalithanlage mit langen Steinereihen und (heute zerstörten) Steinekreisen. Sie war ein Ort der Erdverehrung und zugleich eine Kalenderanlage, mit der die verschiedenen Sonnenstände auf den Bergspitzen gemessen wurden; besonders der Berg „Calanda“, buchstäblich der Kalender-Berg, war der zentrale Peilpunkt. Diese Bauten sind typisch für die jungsteinzeitliche Kultur, und die Gegend ist als ein bronzezeitliches Siedlungsgebiet archäologisch ausgewiesen, das wohl auf jungsteinzeitlichen Anfängen beruht.[5] Bis hierher sind die frühen Menschen also mit ihren Booten vorgedrungen.

Am Hinterrhein im steilen Schamser Tal liegt Andeer mit seiner natürlichen heißen Quelle, und gleich neben dem Heilbad ragt die Kirche auf einem Hügel, der höchstwahrscheinlich ein alter Kulthügel ist. Die Wassergeister wurden hier wohl als sehr mächtig empfunden, so dass ihnen tiefe Verehrung zuteil wurde, denn im Nachbarort Zillis sind sie sogar noch in der Kirche vertreten. Auf der berühmten Deckenmalerei dieser Kirche kann man sie unmittelbar neben christlichen Szenen betrachten: Wasser-Männlein und fischschwänzige Wasser-Weiblein, die mit beiden Händen ihre Schwänze in die Höhe heben, außerdem kleine Drachen. Es sieht aus wie eine Brutstätte von „Drachen und Molchen“. Die Macht der Wassergeister wird unmittelbar danach überwältigend, denn gleich nach Zillis braust der Hinterrhein durch die gewaltige Schlucht der ViaMala, die als der „Schlimme Weg“ gefährlich und gefürchtet war. Hier können keine Boote hindurchfahren, sondern die Schlucht wurde oberhalb von der Burg Hohenrätien aus umgangen. Wo der wilde Fluss die Schlucht wiederverlässt, beginnt bei Thusis das Domleschg-Tal, und genau dort liegt ein Hügelrücken quer zum Tal, der aus einiger Entfernung betrachtet (am besten von Rothenbrunnen) die Gestalt eines Drachen hat. Das musste auch von den frühen Menschen so gesehen worden sein, denn sein ragendes Felsenhaupt und sein absinkendes Hinterteil sind von ihnen durch Kultplätze gekennzeichnet worden: Sein Haupt trägt die Burg Hohenrätien und fällt senkrecht zur Via Mala-Schlucht ab, zu der es den Blick versperrt. Die Burg Hohenrätien ist damit ein besonderer Platz und war ein uralter Kultort, sie hat Sichtlinien durch das gesamte Domleschg-Tal, das seinerseits mit auffälligen Burgen und Kapellen besetzt ist. Das Hinterteil des Drachen, das sich zur Schlucht der Albula neigt, trägt die berühmten Felszeichnungen der Carschenna: Mehrere Steinblöcke sind übersät mit Schalen, verbunden mit konzentrischen Kreisen, die als kleine Sonnenuhren oder Kalendermarkierungen gedient haben können, und vielen weiteren schönen Mustern (Abb. 1). Hier ist der Drache also schon ziemlich ausgewachsen.

Nach dem Zusammenfluss von Vorderrhein und Hinterrhein passiert der Fluss die Hänge des Calanda-Berges und die Stadt Chur. Hier beginnt das breitere Rheintal, das sich zum Bodensee von Süd nach Nord hinzieht. Darin liegt nördlich von Chur Bad Ragaz, wo das Flüsschen Tamina aus der Tamina-Schlucht hervorkommt. Auch dort entspringt eine starke heiße Quelle aus dem Berg, welche die Heilwasserbecken von Bad Ragaz noch heute speist. Oberhalb der Tamina-Schlucht liegt Pfäfers, und da geht es hinauf zum Kunkelspass, einem bergigen Übergang, der auf der anderen Seite steil hinab nach Reichenau-Tamins führt, und dort oben beim Kunkelspass ist die Sage von St. Margaretha angesiedelt. Dasrätoromanische Lied von „Sontga Margriata“ hat sie festgehalten, und diese rätoromanische Margaretha ist keineswegs eine christliche Heilige. Sie wird von den Rätoromanen eine „Diala“ genannt, das heißt „Fee“ oder „kleine Göttin“. Das Lied erzählt von ihr, dass sie die Fruchtbarkeit der Almen auf dem Kunkelspass hütet und eines Tages ein altes Ritual auf einer Steinplatte, einem Rutschstein, vollzieht, denn es heißt, sie „rutscht dort aus“, wobei sie ihre Brüste entblößt. Dabei wird sie vom Hirtenknaben entdeckt, verpetzt und von dem Senn vertrieben. Bei ihrem Weggang nimmt sie alle Fruchtbarkeit mit sich fort, die Milch der Kühe, das Wachstum der Kräuter und Wiesen, auch die Heilkraft der kalten und heißen Quellen.[6] – Wir sehen, handelt es sich um eine typische Vertreibungssage, die auf das Alte Volk mit seinen anderen Sitten hinweist. Wie auf Rügen die Witten Wiver, so scheidet auch hier die Fee, bedrängt von den späteren Menschen und den Christen, und nimmt den Segen der Natur mit sich fort.[7]

Wo Margaretha ist, da ist auch der Drache nicht weit: Oberhalb von Vättis, kurz vor dem Aufstieg zum Kunkelspass, sieht man in der Steilwand des „gelben Berges“ in 2100 m Höhe ein großes, 7 m hohes Loch, genannt das „Drachenloch“. Die hinter dem Eingang liegende Grotte besteht aus drei Höhlen nacheinander, alle von gleicher symmetrischer Form, in der Größe stetig abnehmend, bis sie in drei weiteren, kleinen Höhlen mündet, die ebenfalls symmetrische Form haben. Zwischen den Höhlen befinden sich schön gerundete Tore oder abgerundete Durchschlüpfe. Dies alles sieht sehr auffällig nach künstlicher Bearbeitung durch frühe Menschen aus.[8] Archäologische Untersuchungen haben ergeben, dass hier altsteinzeitliche Neandertal-Menschen gelebt haben und eine rituelle Bestattung von Höhlenbären durchgeführt haben. Dies geschah fast so sorgsam wie bei menschlichen Angehörigen. Zugleich fand man eine hockende, gebärende weibliche Figur, die auf dem Gesicht eine Bärenmaske trägt.[9] Sie stellt wohl eine Schamanin dar, die als symbolische Bären-Ahnin die Wiedergeburt der getöteten Bären in die Wege leitet. Tod und Wiedergeburt liegen schon nach altsteinzeitlichem Glauben ganz nahe beieinander, und dieser Glaube lebte auch in den späteren Kulturepochen weiter. Der Name „Drachenloch“ wird der Höhle wegen ihrer besonderen Form und in Erinnerung an einen uralten Kultort gegeben worden sein. Eine Sage ist dabei interessant, nach welcher in der Grotte ein Drache hauste, der seinen Flug über die Tamina-Schlucht zum Calanda-Berg zu machen pflegte.[10] – Daran fällt auf, dass dieser Drache die Tamina-Schlucht mit ihrer heiligen, heißen Quelle und den Kunkelspass, auf dem die „Diala“ Margaretha wohnte, mit dem Calanda-Berg, der für die Steinanlage von Falera der wichtigste Peilpunkt war, verbindet. Diese symbolische Verbindung weist auf eine reale Verbindung dieser Kultstätten hin.

Am Ende des Tales des Alpenrheins, kurz vor seiner Mündung in den Bodensee, kehrt Margaretha in direkter Verbindung mit dem Drachen wieder. Hier heißt sogar eine Stadt ihr: St. Margrethen. Allerdings ist die Göttin nun gänzlich verchristlicht worden und gehört zur Gruppe der drei Heiligen Frauen Barbara, Catharina, Margaretha, die ihrerseits Nachfolgerinnen der Drei Bethen sind.[11] Aber die christliche Tünche ist dünn, denn stets wird die Heilige Margaretha von einem Drachen begleitet dargestellt, den sie gemäß ihrer Legende überwunden haben soll. Dazu passt keineswegs, dass sie den Drachen niemals angreift wie die späteren Drachenkämpfer und Drachentöter. Auf ihrem Altarbild in der Georgskapelle von Obersaxen in Graubünden trägt sie ihn als kleines Tier ausgesprochen liebevoll auf dem Arm (Abb. 2).

Wer ist mit diesem Drachen, dessen Symbolik sich entlang des Alpenrheins häuft,eigentlich gemeint? Es ist dieser wilde Bergfluss selbst, denn er kommt reißend von den Gletschern herunter, tost brausend durch die Via Mala-Schlucht und brachte dem Schweizer Rheintal, durch das er früher mäandrierte, regelmäßig Überschwemmungen. Heute fließt er hier, kanalisiert und eingezwängt, in schnurgerader Rinne. Bei den Rätoromanen im Engadin wird der junge, wilde Inn, wo er durch die Schluchten des Unterengadin braust, heute noch „Il Dragun“ genannt, das heißt „Der Drache“. An alten Engadiner Häusern finden sich zahlreiche Drachen-Grafitti. Die Drachensymbolik für Flüsse ist auch aus anderen Kontinenten bekannt; zum Beispiel bezieht sich in China das Bild des gewundenen, hundertgliedrigen Drachen auf die großen Ströme Hoang ho und Jang tse kiang mit ihren vielen Nebenflüssen. Der Drache hat große Macht, denn er bringt den Menschen ebenso Segen wie Unheil, wobei das fruchtbare Schwemmland den Segen bedeutet, die gefährlichen Überschwemmungen aber das Unheil. Im Bild des Drachen wurden diese Flüsse verehrt, und die Göttin des Landes selbst – die sich am Alpenrhein hinter Margaretha verbirgt – ist mit ihm verbunden. Hinter ihr steht die Göttin Reitia/Rätia, die zugleich die Mutter Erde des Landes Rätien als Schwarze Göttin ist. Denn die Wasser des Drachen machen die Erde fruchtbar.

Es verwundert daher nicht, dass der Rheinvater diese Verbindung zwischen den Rheintöchtern und den Drachen fürchtet, die „von der Schweiz bis zur Mündung fliegen“. Denn er verleugnet damit, dass der Strom selbst kein männlicher Gott war, sondern als der Drache betrachtet wurde. Dramatischer wird es, wenn der Drache als Symbol für die Macht der Natur vom Christentum zum „Bösen“ schlechthin erklärt und vom Erzengel Michael, vom Ritter Georg und anderen Helden bekämpft und getötet wird. Damit wird sinnfällig gemacht, dass man die alte matriarchale Naturreligion bekämpft und zerstört. Entlang des gesamten Rheins sind diese Drachenkampf-Sagen zu finden, z.B. von Ritter Georg von Frankenstein an der Bergstraße,[12] vom Drachenfels bei Bonn,[13] von Siegfried auf der Gnitaheide am Niederrhein.[14] Nur im letzteren Fall, der noch vor dem Christentum liegt, gilt der Drache als mächtiges und magisches Tier. Aber getötet muss er trotzdem werden, damit frühpatriarchale Helden sich beweisen können. (S. 12-14)

Der Rheindurchbruch von Bingen bis Koblenz: Frau Ley

Der Name „Frau Ley“ kommt in einem halben Dutzend Rheinsagen vor. „Frau“ hat dabei nicht dieselbe Bedeutung wie in der Gegenwart, in der jede weibliche Person so bezeichnet wird. Im Mittelalter war das Wort „frouwe“ ein Titel der adligen Damen und bedeutete „Herrin, Fürstin“, während die einfachen Vertreterinnen dieses Geschlechts „wip“, d.h.„Weib“ hießen, eine durchaus ehrenvolle Bezeichnung. Noch eine Epoche früher bedeutete das Wort „Frau“ sogar „Göttin“, wie wir an den Bezeichnungen „Frau Holle“, „Frau Venus“ und „Frau Welt“ erkennen können. Wenn daher in den Rheinsagen öfter von „Frau Ley“ die Rede ist, so haben wir es nicht mit der Ehefrau des Rheinkönigs zu tun – wie uns die patriarchalisierte Version weismachen will –, sondern mit der Göttin Ley. In ihr kommen wir der ursprünglichen Göttin des Rheins auf die Spur, die schon vor dem Rheinvater da war.

Es ist auffallend, dass in den Rheinsagen alle Flüsse weiblich sind, sie werden „Frau Elbe“, „Frau Oder“ und „Frau Seine“ genannt. Allein „Frau Ley“ soll die untergeordnete Geliebte und Gattin eines männlichen Flussgottes sein, was nicht sehr stimmig ist. Abgesehen davon tritt meist sie als die Handelnde auf, wie schon die Rheintöchter mit den Drachen recht aktiv erscheinen, während sich der Rheinkönig nur in Sorgen ergeht. So ist es die schöne, junge Frau Ley, die den verliebten Alpenrhein in ein neues Bett nach Vorarlberg lockt, nachdem er zuvor durch den Zürcher See und Walensee geflossen sein soll.[15] Frau Ley ist es auch, die im Bodensee im tiefen, durchsichtigen Wasserschloss mit dem jungen Rheinkönig Hochzeit macht, und zwar zur Mittsommernacht, wenn sich die Wasserleute finden. Als Folge ihrer Liebesnacht, die von Geigen und Singen begleitet war, trat der Bodensee über die Ufer.[16] Dieses Motiv der Heiligen Hochzeit stammt aus dem matriarchalen Festezyklus, denn es ist genau die Zeit der Sommersonnwende, wenn die Göttin in Gestalt ihrer Priesterin den Heroskönig zur Heiligen Hochzeit einlädt, eine magische Zeremonie, durch die nach uralterAuffassung Erde und Gewässer fruchtbar werden. Auch Frau Ley, die Göttin des Rheins, erwählte ihren jungen König immer wieder zu dieser Zeit. Wir dürfen annehmen, dass an den zahlreichen Kultplätzen am Bodensee und rheinabwärts zu dieser Zeit entsprechende Ritualfeste stattfanden.

Weiter abwärts entlang des Rheins ist von Frau Ley als der „Wasserkönigin“ die Rede, und sie hat viele Töchter, die schön und stark sind: so die „Uhte-Ley“, die Mosel, und die „Witte-Ley“, die Lahn.[17] Die Mosel fließt direkt in Koblenz von links in den Rhein und die Lahn nahe bei Koblenz von rechts, so dass hier fast an derselben Stelle drei Flussgöttinnenzusammenkommen. Das ist stets eine hochheilige Stelle, und darauf weisen auch ihre Namen hin: Witte-Ley ist von diesen Flussgöttinnen die „Weiße Ley“, Uhte-Ley die „Schwarze Ley“[18] und Frau Ley in der Mitte die Rote Ley, was sich durch ihren zentralen Platz ergibt. Eine ähnliche Situation, aber noch genauer, haben wir in Passau mit dem Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz, die ebenfalls drei Flussgöttinnen mit derselben Symbolik an Farben und Eigenschaften sind.[19] Solche Zuschreibungen sind sehr alt und beziehen sich stets auf die Dreifache Göttin der matriarchalen Kultur. Doch auch weiter stromabwärts treten starke Töchter der Frau Ley auf. Im Rheindelta sind gemäß den Sagen ihre Töchter die Waal, die Yssel, die Vecht und die Amstel, und dort hat sie auch einen Sohn, der „Krumme Rhein“ (Alter Rhein) genannt, denn er ist krumm und verwachsen.[20] Auch die Stadt „Leyden“ im Rheindelta in Holland heißt nach der Frau Ley.[21] Frau Ley folgt auch keineswegs ihrem Gatten, dem Vater Rhein, überall hin, sondern sie zieht es vor, in ihren eigenen Wasserschlössern tief im Rhein zu wohnen und in Gesellschaft ihrer Kinder, allen Nebenflüssen des Rheins, zu weilen. In ihren gläsernen Schlössern führt sie mit ihren Töchtern eine eigene Hofhaltung.[22]

Sowohl die Namen ihrer Töchter, die von der Mutter abgeleitet sind, wie auch die anderen Sagenmotive weisen auf matriarchale Verhältnisse hin: Frau Ley wird allein als Mutter ihrer Kinder genannt, und sie führt ihren eigenen Hof. Sie ist mit ihren vielen Kindern ein Mutter-Strom, und die ältere Vorstellung war wohl nicht diejenige von einem Rheinvater, sondern von einer „Mutter Rhein“. Die Bezeichnung „Ley“ ist ebenfalls ein aufschlussreiches Wort. „Ley“ bezeichnet eine Linie oder einen Weg, wie es noch in dem Wort „Leite“ für einen wichtigen Fernweg vorkommt, der früher zu Fuß begangen wurde. Jeder Fluss ist in frühester Zeit ein solcher Ley gewesen, nämlich der Wasserweg für die matriarchale Ackerbaukultur, die auf diese Weise ins Innere des europäischen Kontinents gelangte. Zu Schiff folgten die Menschen der „Frau Ley“ als dem Hauptweg immer weiter stromaufwärts oder stromabwärts und befuhren auch ihre Töchter Mosel, Lahn und die anderen, die oft auch mit „Ley“ für „Weg“ bezeichnet und als Göttinnen betrachtet und verehrt wurden.

„Ley“ bezeichnet auch Schiefergestein, und der Rheindurchbruch zwischen Bingen und Koblenz führt durch Schieferfelsen, von denen der markanteste bei St. Goarshausen den bezeichnenden Namen „Lure Ley“ („Lorelei“) trägt. „Luren“ heißt „lauern, verlocken“,[23] die „Lure Ley“ ist also die „Verlockende Ley“, doch ihre Verlockung kann auch gefährlich sein. Das ergibt sich schon landschaftlich aus dieser heiklen Stelle, wo der Fluss sehr eng wird und Schieferklippen unter der Wasseroberfläche lauern. An diesem Felsen verlässt Frau Ley gelegentlich ihre Schlösser und Wohnungen im Rhein, um den Menschen in sichtbarer Gestalt zu erscheinen. Das geschieht in ihrem Aspekt als Rote Göttin, die sie ja ist, und sie erscheint hier als Frau Venus. Sie verhält sich genauso, wie es auch andere Sagen von Frau Venus erzählen: Sie singt wundersam und strählt mit goldenem Kamm ihre goldenen Haare. Dasselbe wird auch von Frau Verena (Venus) in den Schweizer Sagen berichtet, die ebenfalls ihre goldenen Haare auf diese Weise kämmt, ebenfalls von Frau Holda auf dem Weißner/Meißner.[24] Mit dem Gesang ruft die Rote Göttin einen liebenden Mann zu sich, und das Kämmen der offenen Haare ist eine erotische Aufforderung, da nach altem Glauben in den Haaren einer Frau oder Göttin ihre Liebeskraft steckt. Dabei ruft sie nicht wahllos jeden zu sich und schon gar nicht, um ihn ins Verderben zu stürzen, sondern um mit ihm die Heilige Hochzeit zu feiern. Hören wir, was die Rheinsage von der Lure Ley sagt:

„Als wohltätige Fee schenkte sie Gunst und Glück allen guten Bewohnern der Gegend. Den Bösen und Frevlern aber erwies sie sich als feindlich, und mancher, der keck an dem Felsen hinfuhr und ihrer Macht zu spotten wagte, wurde von den brandenden Wogen ergriffen und in den Abgrund gezogen. Wer sich gar erdreistete, zu ihrem Lieblingsplatz empor zu klimmen, stürzte in Untiefen oder wurde von ihr verlockt und verirrte sich in Dorn und Gestrüpp, wo ihm alle Pfade verschwanden, so dass er erst nach tagelangem Suchen den Rückweg finden konnte.“ [25]

Wir sehen Frau Ley hier als gerechte Göttin, die ähnlich wie Frau Holle die Guten belohnt und die Frevler bestraft. Sie lässt sich – wie jede Göttin – nicht verspotten, doch nicht einmal dann will sie den Tod der ihr feindlich gesinnten Menschen. Diese fallen ihrem eigenen Leichtsinn zum Opfer, oder Frau Ley führt sie nur in die Irre, um sie wieder loszuwerden. Mit keiner Zeile geht daraus hervor, dass Frau Ley sie absichtlich in den Tod lockt, wie ihr in der patriarchalen Version nachgesagt wird, wo sie zur männermordenden Unholdin gemacht wurde.

In dieser Rheinsage liebt ein Grafensohn die schöne Lure Ley, und sie erwidert seine Liebe. Er singt ihr sehnsüchtige Lieder, in denen er erklärt, lieber zu ihr ins tiefe Wasserschloss hinabkommen zu wollen als ohne sie weiterzuleben. Daraufhin lässt sie ihn durch die wilden Wogen zu sich in die Tiefe holen.[26] Eine ähnliche Sage gibt es in Holland: Die Wasserkönigin holt einen liebenden Mann zu sich in die Tiefe, weil er es begehrt.[27] – Diese Handlungsweise hat Frau Ley mit vielen schönen Wasserfrauen gemeinsam. Auch das ist ein Motiv der HeiligenHochzeit, welche die Göttin hier mit einem Menschenmann feiert. Er wird dazu in ihr Reich geführt, aus dem er nicht mehr zurückkehrt, weil er dort die Seligkeit der Liebe findet. Es ist ein weitverbreitetes Motiv, das sich auf die gesamte Feenwelt erstreckt. Es ist überliefert von Nordeuropa bis nach Italien. Stets ist dabei klar, dass der menschliche Partner freiwillig bei der Göttin sein möchte und nicht mehr in die Menschenwelt zurückzukehren begehrt, zum Beispiel im volkstümlichen Lied vom „Tannhäuser“, in der schottischen Sage „Tom der Reimer“ und in der Dolomiten-Sage „Cian Bolpin“.[28]



[1] Jean-Pierre Mohen: Megalithkultur in Europa; und Michael Schmidt: Die alten Steine; und Johannes Groht: Tempel der Ahnen.

[2] Harald von Petrikovits: Die Rheinlande in Römischer Zeit, mit einem Überblick über die rheinische Urgeschichte, Düsseldorf 1980, Verlag Schwann, S. 22.

[3] Aus Hans Friedrich Blunck: Sagen vom Rhein,Bayreuth 1980, Loewes Verlag, S. 62.

[4] H. Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros.

[5] Ulrich und Greti Büchi/Ignaz Cathomen: Die Menhire auf Planezzas/Falera, Stäfa/Schweiz 1995 (2. Aufl.), Eigenverlag Forch/Rothenhäusler Verlag.

[6] Aus der oralen Tradition aufgezeichnet von Hanns in der Gand (1937/38), vgl. Christian Caminada: „Das Rätoromanische St. Margaretha-Lied“, in: Graubünden. Die verzauberten Täler. Die urgeschichtlichen Kulte und Bräuche im alten Rätien, Disentis 1992 (zuerst Olten 1961), Desertina Verlag, S. 243-256.

[7] Siehe Kapitel 1 in diesem Buch.

[8] Siehe Peter Baumann (Hg.): Drachenloch 1917-23, Olten 2008, Drachenloch-Museum, Vättis, Abb. 6, S. 18 und Abb. 23-26, S. 46, 47.

[9] Peter Baumann: „Bedeutendes Kulturerbe Drachenloch“, in Terra plana. Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Tourismus und Wirtschaft,2012, Nr. 2, S. 16-18; siehe auch: P. Baumann, a.a.O., besonders die Abb. 17 a-c, S. 24-25, Beschreibung S. 15-16.

[10] Siehe Jakob Kuoni: Sagen des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1903, darin: „Der Drache“, Nr. 232, S. 115.

[11] Siehe Kapitel 2 in diesem Buch; und E. Kutter: Der Kult der drei Jungfrauen; S. Früh (Hg.): Der Kult der drei Heiligen Frauen; S. Früh und K. Derungs: Der Kult der drei Heiligen Frauen.

[12] F. J. Kiefer:Rheinsagen. Von Basel bis Rotterdam,München 1979, Verlag Lothar Borowsky, S. 67-71.

[13] Vgl. Wendelin Duda: Die Sagen des Siebengebirges, Reihe: „Die Sagen vom Rhein“, Nr. 21, Stegen 2012 (2. Aufl.), Freiburger Echo-Verlag, S.42-44.

[14] F. J. Kiefer: Rheinsagen, S. 249/250; und H. F. Blunck: Sagen vom Rhein, S. 177/178.

[15] H. F. Blunck: Sagen vom Rhein, S. 10.

[16] A.a.O., S. 17.

[17] A.a.O., S. 124.

[18] Das mittelhochdeutsche Wort „uht“ oder „uoht“ bezieht sich auf die Dunkelheit, z. B. bezeichnet „uoht-weide“ die „Nachtweide“, vgl. Matthias von Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart 1963, 30. Auflage, S. Hirzel Verlag, S. 243, Spalte 1. Ferner heißt das althochdeutsche Wort „utin“ ebenfalls „dunkel, schwarz“, z. B. ist die „utinswal“ („schwarze Schwalbe“) das schwarze Blesshuhn, später zu „Utenschwalb“ für den Schwarzstorch geworden, vgl. F. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 811.

[19] Siehe Kapitel 5 in diesem Buch.

[20] H. F. Blunck: Sagen vom Rhein, S. 184 und 216.

[21] A.a.O., S. 202/203.

[22] A.a.O., S. 123-124, 189, 202/203.

[23] Vgl. Matthias von Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, S. 131, Spalte 2.

[24] Siehe Kapitel 2 in diesem Buch.

[25] F. J. Kiefer: Rheinsagen, S. 147.

[26] A.a.O., S. 146-150.

[27] H. F. Blunck: Sagen vom Rhein, S. 195.

[28] Zu „Tannhäuser“ vgl. Kapitel 2 in diesem Buch. In Schottland ist es über den Dichter Thomas von Erceldoune, „Tom der Reimer“ genannt, überliefert, der an seinem Lebensende sich zu seiner geliebten Feenkönigin in die Wildnis begibt, um nie mehr wiederzukehren (vgl. Hugh Mynne: The Fairy Way). In den Dolomiten erscheint es in der Sage „Cian Bolpin“; auch dieser magnicht mehr unter den Menschen leben und kehrt zu seiner Göttin-Fee Dona Kelina in die Anderswelt zurück (vgl. K. F. Wolff: Dolomitensagen, Innsbruck-Wien-München 1957, Tyrolia-Verlag. S. 135).