Region 2
Ostseeküste, Mecklenburgische Seenplatte


Ziegensteine auf der Insel Rügen

zwei Großmütter auf dem Godeweg
Christiane van Schie


Im Sommer 1991 hocke ich in einem groben Leinenkleid auf einem Steinmonolithen. Ich spiele ein Menstruationsritual. Ja, ich spiele dieses Ritual, denn ich gehöre zu einer Gruppe junger Leute, die einen Film auf der Insel Rügen drehen. Wir folgen unseren Visionen und Eingebungen, dabei lassen wir uns von magischen Orten auf Rügen zu Bildern, Tänzen, Musik, Schauspiel und Ritualen inspirieren. Während der Dreharbeiten wissen wir nicht, wohin uns die Arbeit an dem Film führen wird. Wir ahnen die Bedeutung und Prophezeiung noch nicht.

Heute sehe ich den Film mit anderen Augen. Inzwischen bin ich mit Ritualen und Zeremonien vertraut - sie gehören zu meinem Alltag. Der Film hat einen wichtigen Teil meines Lebens vorweggenommen.

Im Februar 2011 ruft Annette Rath-Beckmann mich an und fragt, ob ich etwas über alte Godewege auf der Insel Rügen wisse, einen Beitrag darüber schreiben könne. Sie fragt nach Kultplätzen, Sagen, Überlieferungen, Orten, die noch heute auf die Verehrung der Göttin hinweisen.

Ich hatte gerade die Arbeit an meinem Buch über Schwitzhütten in Europa beendet und keine Lust, schon wieder Geschichtsbücher zu wälzen, zu forschen, Informationen zu sammeln und stundenlang am Computer zu sitzen, um einen Text mit fundiertem geschichtlichem und archäologischem Hintergrundwissen zu schreiben.

Ich sage ihr, dass ich die Göttin vor meiner Hautür zu Fuß erreichen kann und die göttliche Quelle eher in dem, was sich in der Verbindung mit der Natur, in deren Mitte ich lebe, offenbart. Es genügt mir, die göttlichen Kräfte in meinem Garten, bei den Heilkräutern auf den Wiesen ringsum und bei den Holunderbüschen zu finden.

Kurze Zeit später meldet sich Sabine, die Großmutter vom Brennesselhof und fragt, ob ich mit ihr eine Nacht in einem der alten Steinkreise auf Rügen verbringen möchte. Ihre Idee gefällt mir und ich erzähle ihr von dem Film. Ich war seit damals nicht mehr an diesem Ort gewesen. Wir verabreden uns für die Nacht der Sommersonnenwende.

Am Abend des 21. Juni öffnet sich der Himmel und es beginnt zu regnen. Das Auto haben wir bis unters Dach vollgepackt mit Zelt, Schlafsäcken, Fellen, Trommel, Rasseln, Essen, Tee, Kaffee, Taschenlampen, Kerzen, Räucherwerk, Toilettenpapier, Schreibzeug, Gummistiefeln, einer großen regendichten Plane und einem Ziehwagen mit Gummirädern, den wir mit Ach und Krach oben auf unseren riesigen Gepäckberg schieben. Den Wagen nehmen wir mit, damit wir das Gepäck nicht tragen müssen, falls der Waldweg zum Steinkreis gesperrt ist.

Unterwegs im Auto lachen wir über unsere Ausrüstung. Wir leben beide auf abgelegenen Höfen inmitten der Natur, haben schon einige Nächte allein, nur mit einem Schlafsack draußen im Wald verbracht und benehmen uns jetzt wie zwei Touristinnen, die zu einem längeren Campingurlaub fahren.

Der leichte Nieselregen wird unterwegs zu Dauerregen mit heftigen Schauerböen und ist bei unserer Ankunft zu einem gleichbleibenden Landregen geworden.

An einer Weggabelung am Waldrand entscheiden wir uns für eine schmale mittelalterliche Kopfsteinflasterstraße, die uns an den Anfang des letzten Jahrhunderts zu führen scheint. Als wir nach einigem Suchen die großen dunklen Steine im Wald entdecken, halten wir direkt daneben und bleiben vorerst im trockenen Auto sitzen. Der Regen trommelt auf das Dach, wir warten, reden und trinken Kaffee. Ich krame meine Rassel hervor, wir singen und hoffen, dass der Regen irgendwann aufhört. Doch er hört nicht auf. Es ist inzwischen dunkel geworden. In unsere Regenjacken gehüllt steigen wir aus und erkunden den Platz mit einer Taschenlampe. Ich bemerke, dass sich der Ort in den letzten 20 Jahren verändert hat. Eine Hinweistafel erklärt den Steinkreis in drei Sprachen. Wir erfahren, dass die Bedeutung der ca. 5000 Jahre alten Anlage nicht zweifelsfrei geklärt ist und können nicht glauben, dass die fein ausgearbeitete Rille in dem Wächterstein der Versuch gewesen sein soll, den Stein zu spalten, um ihn als Baumaterial nutzen zu können.

Wenige Meter neben der Hinweistafel steht ein überdachter Picknicktisch mit zwei Bänken.

„Hast du Lust, das Zelt aufzubauen?“ frage ich Sabine.
„Nein“ antwortet sie ohne zu zögern.
Ich will die Nacht auch nicht im Zelt verbringen und wir entscheiden, unser Lager am Fuß des Wächtersteins mit der Rille einzurichten. Direkt hinter dem Monolith steht ein junger blühender Holunderbusch. Eine Isomatte und unsere Schlafsäcke sind alles, was wir von unserem vielen Gepäck brauchen, den Rest lassen wir im Auto. Auch die Trommel packen wir nicht aus, weil wir die Tiere nicht stören wollen. Nur unsere Rasseln nehmen wir mit. Wir stellen überrascht fest, dass sich der schräg in die Erde eingegrabene Monolith wunderbar zum Anlehnen eignet. Wir sitzen bequem wie zwei Damen in Liegestühlen auf der Terrasse eines Kurhotels und bemerken verwundert, dass der Platz trotz des stundenlangen Regens vollkommen trocken geblieben ist.

Ich zünde Bienenwachskerzen an, Sabine öffnet eine geheimnisvoll verzierte Holzschatulle, in der sie Räucherwerk und Ritualgegenstände mitgebracht hat. Sie beginnt, uns beide und den Platz mit Salbei und Wachholderrauch zu reinigen. Dann lädt sie die Kräfte aus den vier Himmelsrichtungen ein und bittet sie, uns das Geheimnis dieses Ortes zu offenbaren.

Ich streue einen Schutzkreis aus getrocknetem Süßgras um unser Lager.

Als wir es uns in den Schlafsäcken mit dampfendem Kaffee und getrockneten Datteln gemütlich gemacht haben, sehe ich ein Licht gerade vor uns durch die Zweige schimmern. Ein Auto? Nein, der Halbmond ist aufgegangen und leuchtet durch die Bäume direkt auf unseren Platz. Der Horizont scheint wolkenlos zu sein. Doch über uns in den Blättern hören wir immer noch den Regen rauschen.

Wir bleiben wundersamerweise die ganze Nacht trocken. Auch die Kerzen werden weder vom Regen noch vom Wind gelöscht. Die Silhouetten der schweren Monolithen neben uns sehen im Mondlicht aus wie alte Wächterfiguren mit Kapuzen, die uns bewachen. Auch den Regen erkennen wir als Schutz, denn bei diesem Wetter würde kaum jemand auf die Idee kommen, mitten in der Nacht durch den Wald zu spazieren. Sabine wollte die Nacht eigentlich schweigend verbringen, doch wir sind neugierig aufeinander. Wir kennen uns kaum. Sie hat mich im letzten Jahr in ihr Heukino zu einer Lesung aus meinem Buch eingeladen. Als ich ihr sage, dass ich die Batterien für meine Hörgeräte vergessen habe, will sie zumindest so lange reden, bis sie leer sind. Sie hielten die ganze Nacht, doch wir hören später trotzdem auf zu reden.

Wir singen, rasseln, erzählen Geschichten und lauschen. Dann löschen wir die Kerzen und begeben uns durch den Nebel der Zeit auf eine Traumreise in die Anderswelt. Sabine begleitet unsere Reise mit ihrer Rassel. Wir sitzen dicht nebeneinander. Die Monolithen um uns scheinen im Dunkeln zu lebendigen Wesen zu werden. In den alten Bäumen offenbaren sich tanzende Gestalten. Über uns hängt ein filigran gewebtes Netz aus Blättern und Zweigen als Schutz. Plötzlich rauscht es von Osten mit solch starker Gewalt, als wenn uns jeden Moment eine mächtige Welle überrollen würde. Ich zucke vor Schreck zusammen und reiße die Augen auf, doch es war nur ein besonders heftiger Regenschauer. Ich sehe in den Zweigen am Waldrand eine Gestalt auf einem Bein stehen und fühle mich wieder sicher und beschützt.

Mir erscheint der Ort als ein uralter Treffpunkt für Frauen. Frauen feiern ihre Rituale seit Jahrtausenden im Verborgenen und am liebsten im Schutz der Dunkelheit. Die Nacht ist unsere Freundin.

Die Kraft der Mondin, ihr weiblicher Zyklus von Aufsteigen und Absteigen, von Zunehmen und Abnehmen bewegt die Meere und auch den Erdmantel auf und ab. Der Mondmonat und die Menstruation schwingen im selben Rhythmus. Der Schleier der Dunkelheit verwandelt jeden Abend alles Sichtbare in Unsichtbares. Das ist die Zeit, in der Magie am besten gelingt, in der sich die Türen zur Anderswelt öffnen und Geistwesen sich zeigen, wenn wir sie rufen.

Sabine rasselt immer weiter und ich erinnere mich an die Bilder aus dem Film:
Eine Frau hockt auf dem Monolith. Ihr Menstruationsblut tropft durch die Rinne in ein kleines Feuer vor dem gewaltigen Stein. Später sitzt sie vor dem Ritualfeuer auf der Erde und ruft die Kräfte, bis sie neben sich eine Bewegung wahrnimmt. Sie steht vorsichtig auf, geht langsam zu der Stelle, weil sie glaubt, den verführerischen nackten Pan wahrgenommen zu haben, doch als sie nahe genug ist, erschrickt sie und weicht ängstlich zurück. Ein feuriger Geist mit leuchtenden Augen steht vor ihr und sprüht Funken.

In diesem Moment erklingt das helle Lachen einer jungen Frau. Sie hockt hinter einem anderen Monolithen in der Nähe, hat alles mit angesehen. Sie steht auf, läuft aus dem Wald auf die Lichtung und tanzt in der Sonne - unbeschwert von Sehnsüchten nach schönen Männern. Sie wirbelt, dreht sich um sich selbst, bis sie sich auflöst und die leere Wiese hinterlässt, so als wäre sie nie da gewesen.

Sabine gibt das Zeichen mit der Rassel, dass es Zeit ist, wieder zurückzukehren. Nach einer Weile teilen wir unsere Erlebnisse. Sie erzählt, dass sie darum gebeten hatte, dass sich ihr das Wesen des Ortes offenbart. Die Antwort war:
„Wenn du etwas über das Wesen des Ortes wissen willst, dann verbinde dich mit den Steinen und den Bäumen“. Sabine hat zwei Aufgaben des Platzes wahrgenommen: Der Platz im Osten, auf der Seite, wo wir die Nacht verbrachten, war einst der Platz zum Feiern von Festen und Ritualen. In dem Steinkreis im Westen wurden die Toten bestattet. Die äußeren Steine bilden als Wächter einen Schutzkreis um die Grabstellen. Wir denken, dass die Grabsteine auf unseren Friedhöfen ein Überbleibsel der alten Tradition sind. Steinkreise schützen und kennzeichnen über Jahrtausende Grabstellen und Ritualplätze.
Sabine ist tief berührt von dem Kontakt mit den alten Steinen und den Bäumen an diesem Ort.

Am Horizont zeigt sich der erste Morgenschimmer. Wie auf ein geheimes Zeichen hin beginnen gleichzeitig unzählige Vögel zu singen. Der stille Ort ist plötzlich erfüllt vom Zwitschern, Singen und Schmettern der unterschiedlichen Vogelstimmen. Wir schweigen die letzten Stunden, bis es hell ist. Sabine bewegt sich wie eine grazile Baumhexe zwischen den Bäumen, berührt die Stämme, lehnt sich an, lauscht, steht lange still, bis sie zum nächsten Baumwesen weiter geht.

Als ich morgens um halb 5 Uhr auf die Landstraße fahre, rammt uns beinahe ein LKW. Ich kann plötzlich die Geschwindigkeit nicht mehr einschätzen. Auf der Rückfahrt kommt es mir so vor, als wenn wir viel zu schnell fahren, aber der Tacho zeigt nur 60 km/h an. Wir kommen aus einer anderen Zeit.
Auf dem Heimweg flüstert mir die Göttin etwas in meine schwerhörigen Ohren.

Ich glaube nicht mehr an die Verehrung von unzähligen Fruchtbarkeitsgöttinnen in einer matriarchalen Zeit.
Wir reden eine Weile darüber.

Wer sollte all die fruchtbaren Frauen einst verehrt haben? Männer? Und nur, weil diese Frauen Kinder gebären können? Und all die anderen Frauen? Die Unfruchtbaren, die Alten, die Lesbischen, Frauen, die keine Kinder wollen, Frauen, die tote oder kranke Kinder geboren haben, was ist mit denen? Wie empfindet eine kinderlose Frau, eine Frau die nie Großmutter werden wird, die Verehrung der Fruchtbarkeitsgöttin? Wie oft wird Kinderwunsch zum Wahn, der in verzweifelten Versuchen künstlicher Befruchtung endet, dabei Trauer, Enttäuschung und Leere hinterlässt. Wenn Frauen sich über das Kinder gebären definieren oder definiert werden, ist das nichts anderes als eine patriarchöse Wertung. Angesichts der weltweiten Überbevölkerung wäre heute die Verehrung einer Verhütungsgöttin angebracht. „Kondoma“ die Schutzgöttin der unbefruchteten Eizelle. Viele kinderlose Frauen und auch Männer gebären wertvolle Ideen, Projekte, sind kreativ, heilend und nährend auf der Erde unterwegs.

Geburt, Leben und Tod – der natürliche Kreislauf aller Lebewesen. Was gibt es an natürlicher Geburtsfähigkeit zu verehren? Feiern ja, das ist angemessen und wichtig. Freudenfeste, tanzen, lachen, essen, die Mutter und das Neugeborene schmücken, die Freude und Dankbarkeit, dass ein gesundes Kind geboren ist, dass die Sippe weiter am Leben bleibt - egal ob Mädchen oder Jungchen.

Wir Frauen, die wir seit unzähligen Generationen verletzt wurden und werden, wir brauchen diese tröstliche Vorstellung, dass wir alle einst als Göttinnen verehrt wurden. Wir brauchen den Glauben an eine matriarchale Welt - als Trost und als Vision einer heilen Zeit. Diese Vorstellung ist eine Kraftquelle. Doch ich glaube, es wird eine andere Zeit kommen – eine Zeit der Ausgleichung zwischen Frauen und Männern und nicht zwischen Göttinnen und Göttern.
Lasst uns auf weibliche Weise das Leben feiern und immer wieder im Dunkeln der Nacht still werden, um auf Antworten zu lauschen, die wir mit unseren Ohren nicht hören können!

Sabine und ich kommen morgens um 6 Uhr bei mir zu Hause an und gehen für ein paar Stunden schlafen. Als ich um 10 Uhr durch den Garten zum Gästehaus komme, sitzt sie nackt in der Sonne auf der Terrasse und telefoniert mit ihrem Handy. Sie kehrt langsam zurück in ihren Alltag. Wir trinken noch einen Tee zusammen, essen ein wenig, dann verabschieden wir uns. Uns bleibt die Erinnerung an eine magische Regennacht bei den uralten Steinen.

Christiane van Schie
www.frauenheilweise.de

Sabine Barkowsky

www.calla-praxis.de

Godewege für Frauen auf der Kranichinsel Rügen: zum Beispiel zu den Ziegensteinen bei Lancken Granitz
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