Region 2
Ostseeküste, Mecklenburgische Seenplatte

Riesengrab, Opferstein und Thron der Jungfrau

Drei besondere Erfahrungen
von Friederike Bleul-Neubert


Die Insel Rügen ist eine Frau! So weiblich, so rund, so geschwungen, so nährend ist mir noch keine andere Landschaft vorgekommen. Gleiten meine Blicke über die sanften Anhöhen, habe ich das Gefühl, vor mir liegt eine wunderschöne Frau mit Brüsten, Taille und Hüfte. Es gibt sogar eine Hügelkette, die wirklich „Busenberge“ heißt, vom Bahnhof Posewald der Kleinbahn Rasender Roland aus zu sehen und per pedes zu erklettern.

Nun ist über Rügen und die besonderen Stellen der Insel schon viel geschrieben worden, es gibt Einiges zu den Großsteingräbern der Steinzeit, den Riesenfindlingen und Opfersteinen, den Burgwällen, den Hügelgräbern der Bronzezeit, zum Hertasee und vielen anderen sagenumwobenen Stätten. Märchen- und Sagensammlungen sind bereits im 19. Jahrhundert erstellt worden, auch dazu gibt es eine breit gefächerte Literatur. Hier möchte ich von drei Stellen berichten, bei denen ich auf Besonderheiten gestoßen bin, die ich in keinem anderen Buch gelesen habe.


Das Riesengrab von Nobbin

Wenn man auf der Halbinsel Wittow den Wanderweg von Juliusruh zum Kap Arkona geht, kommt man auf halber Höhe zum sogenannten Riesengrab von Nobbin. Es ist ein Hügelbett mit (inzwischen nur noch einem offenen) Steinkistengrab, umgeben von einer trapezförmigen Einfassung mit kleineren Findlingen von 34 m Länge und 8 bis 11 m Breite. An der Südwestseite stehen zwei mehr als 3 m hohe Wächtersteine. (1)

                       

Während meiner vielen Urlaubsaufenthalte habe ich dieses Riesengrab jedes Mal aufgesucht, möglichst zu Zeiten, wo nicht so viele Touristen unterwegs waren. Angelehnt an den größeren der Wächtersteine konnte ich die gespeicherte Wärme der Sonne spüren und in mich aufnehmen. Am Rand des Steinkistengrabes sitzend habe ich manche „Trancereise“ machen können und Rat bekommen. Eine Sage, dass hier der Eingang zur Unterwelt gewesen sei (2), zeigt die besondere Eignung des Ortes für die Begegnung mit dem Göttlichen, nicht nur meine persönliche Neigung.


Eines Tages, ich wollte in der Dämmerung die Vollmondin an dieser Stelle in ihrer ganzen Schönheit genießen, habe ich eine Entdeckung gemacht. In nördlicher Richtung sah ich die Leuchttürme von Kap Arkona blinken. Sie stehen auf der nördlichsten Stelle der Insel, einem alten slawischen Heiligtum. Um sie besser sehen zu können, stellte ich mich auf die höchste Erhebung des Hügels. Bei meinem Blick rundherum sah ich von Süden aus weitere Blinklichter. Das war der Leuchtturm vom Dornbusch auf Hiddensee, der Nachbarinsel von Rügen! Da stand ich, praktisch in der Mitte zwischen zwei so hervorragenden Signalen. Dass Kap Arkona schon vor den Slawen ein heiliger Ort gewesen ist, scheint mir sicher. Immerhin wurde dort ein viergesichtiger Gott verehrt, dessen wichtigstes Instrument ein Füllhorn war, mit dem die Fruchtbarkeit im Lauf des Jahres vorhergesagt wurde. Auch Pferde wurden in den Orakeldienst gestellt. Vier Gesichter = vier Jahreszeiten, Füllhorn, Pferde – dies alles sind ehemals weiblich-göttliche Attribute und Kennzeichen gewesen. Die Slawen wechselten nur in „bewährter“ patriarchaler Manier das Geschlecht der Gottheit. Bei einem Besuch des Hiddenseer Leuchtturms hatte ich ebenfalls das Gefühl, auf einem alten Kultort zu stehen.

In meiner Erinnerung tauchte ein Gespräch auf, bei dem es darum ging, dass Kap Arkona der nördlichste Punkt einer steinzeitlichen Kommunikationslinie gewesen sei, die sich von Gibraltar über ganz Europa erstreckte. Immer in Sichtabständen sollen große Feuer angezündet gewesen sein. Welchen Zweck sie hatten, weiß ich nicht mehr. Aber plötzlich fühlte ich mich wie in einem großartigen Netz verbunden mit den südlichsten und nördlichsten Spitzen unseres Kontinents. Ich war mir auch sicher, dass die Wahl des Ortes für den Begräbnisplatz in Nobbin nicht zufällig geschehen war. Wenn man von hier aus zwei dieser verbundenen Punkte sehen konnte, war dies ein besonderer Ort, mit besonderen energetischen Kräften. Dass diese Stelle für eine solche Anlage prädestiniert ist, kannte ich von meinen Besuchen schwedischer Grabstellen (Schiffssetzungen, Grabhügel). Sie sind alle in einer besonders schönen landschaftlichen Gegend, meist auf einem Hügel, angelegt. Nun hatte ich genauso etwas hier auf Rügen entdeckt – und ich stand da und konnte dies alles spüren.

Für mich wurde das Riesengrab von Nobbin zu einem ganz intensiv erlebten Kraftort.


Der Opferstein von Quoltitz

Weniger bekannt ist einer der größeren Findlinge, die auf Rügen als Opfersteine bezeichnet werden, nämlich der Opferstein von Quoltitz. Ob er wirklich einmal ein Opferstein gewesen ist, ist nicht mehr herauszufinden. Der Name Quoltitz könnte von „kval“ (altnordisch) / „kwaljan“ (germanisch) / „quelan“ (althochdeutsch) = Qual, Totschlag, Pein stammen. Gemeinsam mit einem in der Nähe liegenden Flurstück namens Blootwisch = Blutwiese und dem nebenher fließenden Bach namens Blootbach liegt die Deutung als Opferstein nahe. Auch die Rinne, die sich quer über den Stein zieht, wird dahingehend interpretiert, dass das Blut eines geopferten Tieres oder Menschen darin herunterfließen sollte. Auf jeden Fall ist hier ein Kultplatz gewesen. (3)

Mit dem Auto fährt man bis kurz vor die Jasmundtherme in Neddesitz, dann zweigt ein kleiner unbefestigter Weg nach links ab, der aber nur sehr vorsichtig mit dem Wagen zu befahren ist. Nach ein paar hundert Metern öffnet sich ein Platz zum Parken, dort mündet auch rechter Hand der Bachlauf. Daneben geht ein Waldweg die Anhöhe entlang, der nach einiger Zeit an einem Feld endet. Wenn ich nicht am Waldrand ein kaum sichtbares Hinweisschild gefunden hätte, ich wäre daran vorbeigelaufen.

Der Stein liegt breit und behäbig inmitten eines Baumkreises in einer geradezu idyllischen Lage. Die alten Bäume, jeder für sich eine eigene Persönlichkeit, atmen eine Stille, die die Besonderheit des Ortes unterstreicht. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass hier Rituale und Feste gefeiert werden.

Ich hatte sofort das Bedürfnis, hier die Jahreskreisfeste zu begehen. Aber ich war allein da. So blieb ich still für mich und ließ alles ganz intensiv auf mich wirken. Fast etwas scheu, um den Platz nicht zu entweihen, machte ich dann doch einige Bilder. Als Opfertisch eignet sich der Stein allerdings weniger, da er so hoch ist, dass der oder die Opfernde auf einer Leiter hätte stehen müssen. Trotzdem wird er wohl gerne bestiegen, denn in den Näpfchen entdeckte ich Münzen, also kleine Opfergaben heutiger BesucherInnen (Abb. 7). Solche Näpfchen sind auch von anderen Menhiren bekannt, d.h. die kultische Nutzung des Steins ist ziemlich klar.

Schon war ich auf dem Rückweg, als ich mich noch einmal umsah und nun entdeckte, warum der Stein möglicherweise in Verbindung mit Blut geraten ist: eine Wasserlache in der feuchten Umgebung schimmerte rötlich, die Erde darunter gab diese Färbung ab. Es sah wirklich wie eine Blutlache aus.


Der Königsstuhl – der Thron der Jungfrau

Der Königsstuhl, ein Kreidefelsen an der Ostküste Rügens, ist eines der bekanntesten touristischen Ziele der Insel. Die Legende erzählt zur Namensgebung, dass die Bewerber um die Königswürde den Felsen vom Strand aus heraufklettern mussten. Wer zuerst – oder wer überhaupt – oben ankam, erhielt die Prinzessin zur Frau und wurde König.(4) Bei einer Kutterfahrt längs der Kreidefelsen der Jasmunder Halbinsel machte ich eine Beobachtung, die mir eine andere Deutung in den Sinn brachte. Schon bei der Hinfahrt zum Königsstuhl kommt man an den vielen „Klinken“ vorbei, den Auswaschungen durch Bäche – die berühmteste, die Wissower Klinken, ist vor einigen Jahren abgebrochen. Sie sehen wie große, nebeneinander in die Landschaft gelegte Vulven aus. Nun näherten wir uns dem Königsstuhl. Der weiße Felsen leuchtete in dichtem Waldgebiet. Meine Fantasie ließ mich eine große, überdimensionale Klitoris sehen, die aus den behaarten Venuslippen herausragte.

Und schon überlegte ich eine andere Variante der Namensgebung, eine aus matriarchalen Zeiten: so wie in Ägypten der Pharao seine weltliche Macht, seine Königswürde nur durch die Göttin bekommen hatte und sein Thron das Symbol ihres Schoßes war, so könnte das Besteigen des Felsens mit der anschließenden Hochzeit die Auswahl des matriarchalen Königs gewesen sein. Viele Märchen erzählen davon, dass der Held eine Prüfung ablegen musste, um die Jungfrau und damit die Königswürde zu erwerben. Vielleicht musste der Bewerber hier in alten Zeiten den Felsen erklimmen? Ob dies oder etwas anderes: wenn er die Prüfung bestanden hatte, durfte er den Thron besteigen, erst in der sexuellen Vereinigung der Heiligen Hochzeit und dann als weltlicher Herrscher, ermächtigt durch die Göttin.

Friederike Bleul-Neubert


Literatur:

1 Daten siehe Ingrid Schmidt: Hünengrab und Opferstein - Bodendenkmale auf der Insel Rügen. Hinstorff, S. 12 ff. In diesem Buch sind mehr als 40 solcher Anlagen beschrieben.

2 Hartmut Schmied: Geister, Götter, Teufelssteine - Sagen- und Legendenführer Mecklenburg-Vorpommern, Hinstorff, S. 137f.

3 Ingrid Schmidt, a.a.O., S. 43

4 Hermann Schneider: Götzen, Geister, Riesenweiber - Sagen von Rügen und der Ostseeküste, RMS-Verlag, S. 57 f.