Region 2
Ostseeküste, Mecklenburgische Seenplatte

Boitiner Steintanz

von Kurt Derungs
www.dielandschaft.org

Der Boitiner Steintanz besteht aus drei nebeneinanderliegenden Steinkreisen und einem vierten etwas weiter abseits liegenden Steinkreis.

Südlich des Ortes befinden sich außerdem mehrere Hügelgräber im Wald.


Quellenangabe des nachfolgenden Textes und der Abbildung:
Kurt Derungs: Mythologische Landschaft Deutschland. Bern 1999, Seite 165-167
© edition amalia www.dielandschaft.org

Fotos: Daniela Parr

Ein sogenannter Brautstein mit sagenbezogener Jahreszeitangabe ist der Steintanz von Boitin in Mecklenburg. Ein Stein der Ahnenstätte heisst Bruutkist, Bruutkufert oder Bruutlade und ist mit dreizehn (zwölf) würfelförmigen Vertiefungen versehen. Der Brautstein wurde aufgerichtet, doch einst soll er gelegen sein, ist also ein Breiter oder Heißer Stein in horizontaler Lage. Die ganze Kultstätte bestand aus vier oder drei oval-eiförmigen Steinkreisen, die aufeinander bezogen sind. Dazu kommen Ortungssteine außerhalb der Kreise, die aber bald einmal in den umliegenden Bauernhöfen verschwanden. Heute ist die jungsteinzeitliche oder mindestens bronzezeitliche Ahnenstätte durch „Neugermanen" besetzt, und auch das angebrachte Holzschild fördert irreführend eine germanophile Vereinnahmung, denn von Germanen kann zur Zeit der Errichtung der Steinanlage wohl keine Rede sein: „Großer Boitiner Steintanz. Errichtet vor ungefähr 3000 Jahren diente den Germanen als Kultstätte."

Wie dem auch sei, jedenfalls bilden die Kreise und der Brautstein von Boitin zusammen ein astronomisches, kalendarisches, mathematisches und makrokosmisches Wunderwerk. Verbinden wir beispielsweise die Mittelpunkte der ovalen Steinsetzungen, so erhalten wir zwei rechtwinklige Dreiecke, wie sie bekannterweise die Griechen beschrieben haben, nur sind diese mindestens tausend Jahre älter! Die beiden rechtwinkligen Dreiecke bilden gemeinsam ein gleichschenkliges Dreieck, wobei ein Schenkel genau nach Norden weist und eine Linie nach Südosten in Richtung einer mittsommerlichen Mondortung. Hinzu kommen Ortungen der Sonnenbewegung sowie astral-mathematische Bezüge der geometrischen Anordnung.





Die Sage weiß nun folgendes über die Steinkreise: Einst fand eine Hochzeitsgesellschaft an diesem Ort statt. Zu später Stunde begann man im Übermut mit Broten und Würsten zu kegeln und auf Käsen zu tanzen oder, gemäß verschiedener Varianten der Erzählmotive, verkehrten im angeheiterten Zustand Frauen und Männer offen miteinander. Darauf erschien ein kleines Männchen (oder die Gottesstrafe) und verwandelte die ganze Sippe in Steine, die nun die großen Kreise bilden. Ein Schäfer, der mit seiner Herde Zaungast des Festes und der Versteinerung war, erhielt ebenfalls deren Schicksal und wurde in den kleinen Steinkreis verwandelt. Wer jedoch in der Johannisnacht den rotseidenen Faden, der aus dem zwölften (dreizehnten?) Loch des Brautsteines heraushängt, zu ziehen vermag, dem öffnet sich der Stein und ihm fällt der reiche Brautschatz zu, der darin ruht. Außerdem erlöst er dadurch die Versteinerten, die wieder zu Menschen werden.

Das Ziehen eines rotseidenen Fadens erinnert an das Labyrinthspiel, bei dem das Fadenmotiv ebenfalls vorkommt (Ariadnefaden) oder an die Ahnen- und Kultstätte der Rosengärten, die sprachlich explizit den roten Garten bezeichnen, zumal im berühmten Garten des Königs Laurin das Fädenziehen besonders erwähnt wird. Damit wird ein heiliger Hain abgesteckt, ein sakraler Bezirk für die jahreszeitlichen Rituale im Angesicht der Ahnen im Tempel des Mondes und im Tempel der Sonne, wie es von den Orkney-Inseln berichtet wird. Gegenwärtig in der Nacht des Mittsommers ist die liegende Braut, die rote Frauengöttin des Vollmondes, deren rotseidener Faden aus dem zwölften oder dreizehnten Loch bzw. heiligen Schoß der steinernen Ahnfrau herauszuziehen ist. Der Faden selbst verweist auf den Lebens- und Schicksalsfaden einer Grossen Göttin, die ihn als Symbol und Attribut besitzt. Er allein bezeugt schon die Präsenz der Frauengöttin, denn er ist zwar ein Teil von ihr und doch ist sie als Ganzes anwesend. Die Braut ist damit nicht nur die schöne Frauengöttin des Sommers, sondern auch eine große Weberin des Todes und des Lebens, eine Schicksalsgöttin, deren roter Faden noch bei der Gerichtsbarkeit um die megalithische Ahnenstätte gezogen wurde.

Aus dem Labyrinth- oder Spiralschoss der Göttin entsteht neues Leben, gleichzeitig kehren die Verstorbenen in ihren Schoss zurück, um eine glückliche Wiedergeburt zu erfahren. Im Ritual der Frauen werden diese mythischen Vorgänge praktiziert, was einem lebendigen Schamaninnentum gleicht. Die sakrale Frau und die Göttin/Ahnfrau werden im heiligen Fest wesensgleich; sie zieht den roten Faden, was Leben hervorbringen und ein Schöpfungsakt bedeutet. Ich erinnere an die drei Schicksalsfrauen mit dem Lebensfaden, den die eine zieht, die andere abmisst und die Schwarze abschneidet. Diese drei heiligen Frauen verkörpern den kosmischen und irdenen Lebensrhythmus als Schöpferin, Erhalterin und Wandlerin des Lebenszyklus.

Gleichzeitig bezeichnet der rotseidene Faden den auserkorenen männlichen Partner der Braut und Sakralkönigin in einer freiwilligen Wahl und in einem spielerischen Überreichen der Gabe. Wie beim roten Liebesapfel, den der Held in Mythen und Märchen von der Liebesgöttin erhält, ist auch der rote Seidenfaden nun seine Insignie für eine gewisse Zeit, ebenso die Aufforderung und Verpflichtung zur Heiligen Hochzeit mit der Vollmondin des Mittsommers. Dem Bräutigam öffnet sich nun der Brautstein und ihm fällt der Brautschatz bzw. die Braut zu. Durch die Heilige Hochzeit, die Segnung von Mensch und Natur, bewirken die Mondin-Braut und ihr Sonnen-Bräutigam eine glückliche Regeneration und Wiederkehr der kosmischen Zyklen und schließlich auch die glückliche Wiedergeburt der versteinerten, schlafenden Menschen.

Die verschiedenen Sagen von der Steinverwandlung der Braut und der Hochzeitsgesellschaft berichten aber auch noch von einer jüngeren patriarchalen Schicht, die nicht weniger aufschlussreich ist. So hören oder lesen wir, dass die Braut/ Sakralkönigin/Göttin eigentlich einen anderen Mann liebt, nämlich einen Geliebten ihrer Wahl, den sie für die jahreszeitlichen Feierlichkeiten und besonders für die Heilige Hochzeit auserkoren hat. Dieser ursprüngliche männliche Partner der Braut wird durch einen fremden und ungeliebten Mann überschichtet, der nun in patriarchaler Art und Weise dessen Rolle übernimmt. Denn die Braut hat jetzt dem Bräutigam zu folgen, er führt sie weg von ihrem angestammten Zuhause und führt sie patrilokal in seine Sippe ein, wo sie nun seinen Ahnen vorgeführt und deren Wiedergeburt sichern soll. So wird der Hochzeitszug für die Braut zum Trauerzug, der sie wegführt von ihrer Selbstbestimmung und freien Partnerwahl, von ihrem matriarchalen Haus und Herd in eine fremde Sippe mit einem auferzwungenen Partner und einer patrilinearen Ahnenverehrung. Wir kennen ethnologisch dieses soziale Muster und die Folgen für die Muttersippe, sowie für die psychisch und physisch unterworfene Braut. Kein Wunder, dass sie sich lieber in Stein verwandeln will, als dem ungeliebten Mann zu folgen.

Kurt Derungs


Kurt Derungs ist Ethnologe und Germanist sowie Begründer der Landschaftsmythologie
www.dielandschaft.org